"Halt mal bitte still."

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Eine vier bis fünf ist doch kein Weltuntergang...Oder? Aber das Thema völlig zu verfehlen. Wie konnte mir das nur passieren? Dabei liege ich in Deutsch doch sonst immer richtig. Im Gegensatz zu vielem anderen. Aber was hat sich die Autorin nur bei diesem Gedicht gedacht. Wer schreibt schon über Farben? Man könnte fast meinen, sie wolle mir eins auswischen.

Ich ließ meinen Blick noch einmal über den handschriftlich verfassten Text schweifen und musste dabei gar nicht wissen, wie viel von dem Grau eigentlich Rot war. Die Anmerkung am Rand 'Timothy, du hast das Thema verfehlt' war bereits aufschlussreich genug. Und Grünes wird es deshalb sicher nicht zu finden geben. Grau auf Grau. Es ist doch lächerlich, dass sich die Leistung nur auf Rot und Grün beschränkt. Mehr gibt es wohl in dem Universum der Lehrer nicht. Doch was für eine Schande das ist für jemanden, der sich darüber definiert so viel intelligenter als seine Mitschüler zu sein.

'Du scheinst nicht verstanden zu haben, dass in dem Gedicht das Wort Farben eine Metapher für Leben und Seele ist.'

Was für ein gefühlsdusseliger Schwachsinn. Da fehlt doch komplett die Logik. Ich konnte mir ein bitteres Lächeln nicht verkneifen, wurde dann aber von einem Räuspern abgelenkt. Mit einem fragenden Brummen hob ich den Kopf und blickte in zwei dunkle Augen, die für meinen Geschmack um einiges zu nah waren. Ich bin vielleicht kein Menschenfeind, aber eher Einzelgänger und finde es schrecklich, wenn mir Fremde zu nahe kommen.

"Ich wollte fragen, ob ich dich zeichnen darf",sprach mich der Fremde mit dem lockigen, dunklen Haar an und hielt einen Zeichenblock in die Höhe.

Dabei lehnte er sich etwas zurück, um mir das Papier freundlicherweise nicht ins Gesicht zu schlagen. Ich konnte sehen, wie auf dem Block bereits mit zarten Linien die Parkbank, auf der ich saß, sowie der Kirschbaum neben mir angedeutet waren. Lediglich ich fehlte noch auf der Momentaufnahme in Tinte.

"Ehm...", langsam löste ich den Blick von der Zeichnung und schaute den jungen Mann vor mir an.

Sein Kleidungsstil war nett gesagt experimentell. Es wirkte, als hätte er eine Altkleidersammlung überfallen. Die graue Strickjacke, die in Echt vermutlich eine ganz andere Farbe besaß, war ihm viel zu groß und hing an ihm wie ein Sack, was sich mit seinem verwaschenen Ahoi-Brause-Werbeshirt und der zerschlissenen Jeans biss. Somit sah er aus, wie die Personifizierung des Klischees vom Kunststudenten, der mit massig Pennern in einer WG lebt und die Wände bemalt.

"Du würdest ein wunderbares Motiv abgeben. Ich zeichne nämlich gerade eine Sammlung Menschen, denen ich hier im Park begegne."

Auf seinem Gesicht machte sich ein stolzes Lächeln breit.

"Öhm...", war jetzt das nächste geistreiche, was ich von mir gab.

"Du musst nicht, wenn du nicht magst", ruderte er zurück.

Man konnte ihm anhören, wie enttäuscht er sein würde, wenn ich ablehnen würde.

"Mach halt", antwortete ich schließlich, klang dabei aber nicht wirklich begeistert.

Diese Bank war mein Rückzugsort, mein Anker. Hier wurde ich nicht gestört und es war, als wäre ich in einer Seifenblase, die mir hilft die Welt auszusperren. Oft kam ich her, um einfach mal für mich zu sein, ein Luxus wenn man sich ein kleines Zimmer mit seinem Bruder teilen musste. Und jetzt kam er und brachte diese Seifenblase zum Platzen. Obwohl mir nicht danach zumute war konnte ich nicht anders als das strahlende Lächeln, das er auf seinen Lippen trug schwach zu erwidern. So jemand wie er nötigte einen ja gerade zu Frohsinn.

"Ich heiße übrigens Nathanael", ließ er beiläufig fallen und setzte sich im Schneidersitz knapp zwei Meter von mir entfernt auf den Schotter des Weges, an dem die Bank stand.

Er hatte scheinbar schon eine Weile dort gesessen, denn ein kleines Fässchen Tinte und ein Zahnputzbecher mit dem typischen Zahnärzte-Motiv hatten bereits seinen Platz gefunden. Ich war scheinbar zu vertieft gewesen, um ihn überhaupt zu bemerken. Etwas unruhig rutschte ich auf der Bank hin und her, da es mir plötzlich unangenehm war. Vorallem da ich nun wusste, dass er mich wohl schon eine Weile beobachtet hatte.





"Halt mal bitte still."

Ertappt hielt ich in der Bewegung inne. Ich hatte gerade die Hand gehoben um mir die wirren braunen Haare aus der Stirn zu streichen, die mir der herbstliche Wind ins Gesicht geblasen hatte. Dabei klang er so gut gelaunt und mit sich selbst zufrieden, dass ich eifersüchtig wurde. Es gab nur wenige Dinge, die bei mir einen solchen Tonfall auslösen würden. Wenn es zum Beispiel darum ginge auszumachen, wer besser war, Frodo oder Bilbo, war ich nicht zu bremsen.

"Was machst du hier eigentlich? Ich habe dich hier nämlich schon öfters gesehen, meistens Nachmittags und allein."

Anscheinend wollte er mich in ein Gespräch verwickeln, denn auch wenn mir nicht nach Reden zumute war antwortete ich.

"Manchmal sind meine eigenen Gedanken mir selbst die beste Gesellschaft", gab ich mit einem Seufzen zu.

Nathanael gab ein leises amüsiertes Geräusch von sich und beugte sich tiefer über seinen Block, den er auf seinem Schoß balancierte. In der linken Hand hielt er die Feder, mit der er mit schnellen Linien eine Version in Schwarz/Weiß von mir skizzierte. Ich war vielleicht kein Kunstkritiker, aber selbst ich erkannte, dass er Talent besaß. Die Linien wirkten fein und doch so lebendig, als wollten sie jeden Moment aus dem Papier springen. Sein Gesicht nahm einen Ausdruck an, der mich an meinen kleinen Bruder erinnerte, wenn er an Weihnachten seine Geschenke ausgepackte. Er war scheinbar in seiner Welt angekommen, so wie es mir zuvor ergangen war, als ich gegrübelt habe.

"Timothy Blake, falls es dich interessiert."

FarbklecksWhere stories live. Discover now