Kapitel 25 - Von toten Jungen und Mädchen aus Licht

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~Bonnie~

Nun, das war eigenartig. Sie hatte zwar schon so viel Ungewöhnliches gesehen, doch das hier war neu. Zur Salzsäule war noch nie etwas erstarrt. Sie war es eigentlich gewöhnt, dass alles um sie herum zum Leben erwachte. Nun war alles mitten in der Bewegung erstarrt. Gigas schwebte noch immer neben ihr in der Luft. Sie konnte seinen Herzschlag hören. Sein Herz hämmerte so schnell in der kleinen Vogelbrust, dass es eigentlich zerspringen müsste. Doch die anderen... Sie spürte, dass sie nicht tot waren, doch wirklich leben, taten sie auch nicht. Ihre Herzen waren genauso stehen geblieben wie die Zeit um sie herum. Die Welt schien unglaublich still zu sein. Als hätte jemand auf die Pause Taste gedrückt... Nur der Regen erfüllte weiter seinen Zweck. Nur dass die Tropfen viel langsamer fielen als gewöhnlich. Sie schienen beinahe in der Luft zu schweben! Es sah aus, wie in Zeitlupe...
Sie zog den Kopf ein und knöpfte die Öffnung in der Zeltplane wieder zu. Vorsichtig legte sie den Block Papier, aus dessen Seiten sie eigentlich viele kleine Papier Pelikane falten, um sie dann zum Leben zu erwecken und durch die Manege hätte fliegen lassen sollen, beiseite. Sie ging auf den Eingang in die Manege zu und trat vor den Vorhang. Sie sah nach oben, wo Ting und Fung, die beiden Trapezkünstler aus China, in dreissig Metern Höhe in der Luft schwebten. Erleichtert stellte sie fest, dass die beiden jedoch Rettungsseile am Rücken befestigt hatten. Gut, dass heute nur die Hauptprobe war. In der richtigen Show gab es keine Seile. Entweder man erwischte das Trapez oder man fiel und endete als ein Haufen aus Fleisch, Blut und zertrümmerter Knochen. Gegen einen solchen Sturz halfen auch die Holzspäne, die den Boden bedeckten, nichts. Tja, no risk, no fun!
Auf der anderen Seite der Manege hockte der Direktor des Zirkus auf einer der Zuschauerbanken und glotzte nach oben. Sein Gesicht war, wie immer wenn er sich aufregte, knallrot und er schwitzte ganz fürchterlich. Er hatte sich mindestens drei Tage nicht rasiert und die Haare hingen ihm in fettigen Strähnen in die Stirn. Gordon Gantrovo, der Besitzer des Gantrovo Zirkus und ihr Vormund. Er war ein... Onkel oder so was. Ein weit entfernter Verwandter jedenfalls. Doch leider war er ihr einziger Verwandter. Oder auch der Einzige, der sie haben wollte. Verwandte ihrer Mutter gab es keine. Ihr Vater hatte, bevor er von irgendwelchen Drogendealern abgestochen worden und seine elfjährige Tochter im Stich gelassen hatte, behauptet, ihre Mutter sei Inderin gewesen. Ihr Vater war ein Arsch. Das wusste sie, seit sie sieben war. Mit vier hatte sie noch an ihn geglaubt. An „Daddy" geglaubt. Mit fünf war da noch die Hoffnung gewesen. Die Hoffnung, dass ihr Vater sich noch ändern, endlich über den Tod ihrer Mutter hinweg kommen würde. Doch natürlich war nichts passiert. Bis zu seinem Tod hatte sie mit ihm in den Gettos gewohnt. In den schlechten Vierteln, wie sie jede Stadt hat. Dort, wo die Drogengeschäfte boomen und Geld und Gewalt eine Sprache waren und Sex und Koks die Währung. Nur ihre Gabe hatte sie am Leben gehalten. Ansonsten wäre sie jetzt wohl eine Nutte, drogenabhängig, bereits schwanger mit dem dritten Kind oder läge gar tot im Graben.
Doch nun lebte sie bei diesem Fettsack und musste sich mit ihrer Gabe zum Clown machen, Papierkraniche zum Leben erwecken und dann so tun, als sei das alles nur ein billiger Trick. Nur damit niemand merkte, dass das ganze eben kein Trick war!
»Na warte, Hundegesicht!«, zischte sie freudig und huschte zu dem Direktor hinüber, um ihm die Schnürsenkel zusammen zu binden.
»Dies war nur der erste Streich und der zweite folgt sogleich...«, kicherte sie fröhlich und malte sich bereits aus, wie sie dem alten Sack Nadeln in die Schuhe streute, ihm Chili in den Honig mischte und seine Kaffeebohnen durch Kaninchenköttel ersetzte.
Ein leises Zwitschern an ihrem Ohr riss sie aus ihren Gedanken: »Sag mal, wie alt bist du? Mensch Bonnie! Ergreifen wir die Chance und tun, was wir planen, seit dein Dad verschwunden ist...«
»Du meinst abgestochen wurde...«, ergänzte sie.
»Von mir aus... abgestochen wurde... Seit dem planen wir doch schon abzuhauen. Du hast doch gespart! Genug Geld ist da! Komm schon!«
Bonnie nickte. Gantrovo würde sie nicht aufhalten können! Kein Riegel, die ihre Wohnwagentür versperrte, keine Schlösser, die ihre Fenster verriegelte, sodass sie nicht einmal im Hochsommer, wenn die Luft schrecklich dick war und vor Hitze flimmerte, ein wenig frische Luft hereinlassen konnte. Und vor allem, vor allem kein Gantrovo!
Wiederstrebend richtete sie sich auf.
»Na gut...«, seufzte sie, liess es sich jedoch nicht nehmen, den Hundegesicht eine kräftige Backpfeife zu verpassen. Und noch eine. Und noch eine.
»Das ist für jedes Mal, wenn du mir an den Arsch gefasst hast.«
Gigas, ihr treuer Gefährte, der sie schon seit ihrem ersten Atemzug begleitete, flatterte um sie herum, schnappte sich mit seinem langen Schnabel eine ihrer dunklen, gelockten Haarsträhnen und zupfte ungeduldig daran.
Sie holte weit aus und liess ihre Handfläche ein letztes auf die verschwitzte, knallrote Wange ihres widerlichen Vormunds niedersausen.
»Nun komm aber!«, zwitscherte Gigas.
»Oi! Ist ja gut, du nerviger Federhaufen von Kolibri!«

Uralte Fassung (1): Twos - Die Prophezeiung von Feuer und EisWhere stories live. Discover now