Kapitel 23 - Der Pirat und die Prinzessin

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~Mile~

Pinocchio lag schwer atmend auf seiner Trage, die auf einen Elefanten geschnallt worden war. Das grosse, graue Rüsseltier stapfte schwerfällig ein Stück hinter Astrar her.
Der Holzjunge, der hier jedoch in Fleisch und Blut vor ihm lag, war noch immer bewusstlos. Sein Bauch war wieder sorgfältig von den Heilern zugenäht und mit Magie versiegelt worden.
Der Junge war noch so klein! Das Fieber vergiftete seine Träume und er warf seinen Kopf immer wieder unruhig hin und her. Seine roten Locken waren mit Schweiss durchtränkt. Mile hätte ihn gerne in LaRuh zurückgelassen, damit sich der Kleine erholen konnte, aber die Monarchen hatten darauf bestanden, ihn mitzunehmen. Er könnte wichtige Informationen besitzen...
»Wir hätten ihn nicht mitnehmen dürfen! Wie alt ist er? Acht? Neun? Er ist ein kleiner Junge! Und alles andere als aus Holz! Er ist verletzlich!«, meinte Mile. Die Schuldgefühle zerfrassen ihn. Er hätte die Augen aufmachen sollen, statt zu versuchen, seine Freundin auszuziehen. Ein Wunder, dass Red ihm verziehen hatte.
»Er wird es schon schaffen. Er ist stärker, als du denkst. Deine Schwester hat es auch geschafft! Sie sind sozusagen „Aus demselben Holz geschnitzt"«, meinte Red und lachte. Mile schüttelte den Kopf.
»Aber er ist nicht aus Holz! Er ist ein Junge. Ein Junge aus Fleisch und Blut! Die Zwerge haben da doch einmal so etwas erwähnt... Dass Pinocchio sie verraten hätte. Nicht absichtlich, aber mit seiner Nase!«, fluchte er.
»Na und? Dann haben sie ihn halt wieder in einem Menschen verwandelt. Worauf willst du hinaus Mile?«
»Wieso?«, fragte er ernst.
»Was? Was wieso?« Red verstand nicht.
»Wieso haben sie ihn verwandelt? Normalerweise hätten sie ihm damit doch einen Gefallen getan. Aber... Es sind die Dunklen! So viel, wie ich von denen gehört habe, müssen die doch echt keine angenehmen Wesen sein. Wieso haben sie Pinocchio in einen Menschen verwandelt?«, wiederholte Mile.
Red kaute nachdenklich auf ihrer Wange.
»Ich weiss nicht. Die Dunklen sind grausam...«, meinte Red und brach ab.
»Glaubst du, sie haben ihn verwandelt, um ihn besser... Foltern zu können?«, hakte Mile weiter. Red nickte traurig und richtete ihren Blick wieder nach vorne.
Noch immer wanderten sie durch die unterirdischen Höhlen. Wenn er sich umdrehen würde, könnte er die Köpfe tausender Krieger der verschiedensten Rassen hinter sich hermarschieren sehen. Das beunruhigte ihn. Deshalb zog er es vor, die grauen Wände der Höhlen anzustarren. Astrar unter ihm schien die Armee hinter ihnen nicht zu stören. Er genoss es einfach, sich mal wieder die Tatzen vertreten zu können.
Oskar, der riesenhafte Wolf auf dem Red ritt, war ein ganzes Stück kleiner als Astrar. Doch auch er war von Respekt einflössender Grösse. Mile wusste, dass Oskar ein Animanore war, aber bisher hatte der Wolf noch nichts von sich preisgegeben. Was hatte Astrar da andeuten wollen? Was verbarg die Rote vor ihm. Er schien Red wohl doch nicht ganz so gut zu kennen, wie er gedacht hatte. Und doch konnte er nicht sauer auf sie sein. Er musste sich schon genug mit seiner kleinen Schwester herumschlagen...
»Ich glaube nicht, dass sie so einfach entkommen sind!«, meinte Red.
»Für mich klang ihre Story recht glaubhaft. Den Wachen eins über die Rübe ziehen, Hänsel krallt sich die Waffen, Gretel schmeisst sich Pinocchio über die Schulter. Dann hauen sie durch die Kanalisation ab. So gerochen haben sie jedenfalls!«, grinste Mile.
Red verdrehte die Augen.
»Hänsel und Gretel sind unsere besten Monsterjäger. Egal ob fiese Hexe, böser Vampir oder abtrünniger Nebeläuger. Bisher habe ich noch nie erlebt, dass ihnen auch nur ein Wesen entwischt ist! Sie sind Kopfgeldjäger. Die meisten Wesen, die in Twos leben, sind sterblich. Nur die Märchenfiguren besitzen diese Unsterblichkeit wie du, ich oder deine Schwester. Andere sind von Natur aus unsterblich. Wie die Drachen. Doch auch die sind nicht vollkommen unsterblich. Ohne Kopf können sie nicht leben. Und durchbohrst du ihr Herz, lässt du ihre Lebensflamme erlöschen. Die beiden, Hänsel und Gretel, sie wissen, wie man mit Waffen umgeht. Seit ihre Stiefmutter, die sogleich auch die mächtigste Hexe und eine der Dunklen ist, ihren Vater getötet hat, haben sie es sich zur Lebensaufgabe gemacht, Monster wie sie zur Strecke zu bringen. Sie stellen sogar das Tapfere Schneiderlein und Jack Gigantkiller in den Schatten. Aber trotzdem. Sie sind zwar gut, aber nicht so gut. Sie waren im Kerker des Zeitpalastes! Dort unten, zwischen den feuchten, kalten Kerkermauern kannst du nicht mal gegen die Wand treten ohne dass es irgendeine verkniffene Hexe merkt und dir einen Fresswurm auf den Hals hetzt. Die setzen die schrecklichsten Ungetüme zum Foltern ein. Da kommt dir ein Nekromaner wie dein bester Freund vor! Bisher hat es noch fast niemand geschafft, wieder lebend aus dem Kerker zu kommen. Das ist praktisch unmöglich Mile. Unmöglich!«, meinte Red. Etwas Eigenartiges schwang in ihrer Stimme mit. Angst? Trauer? Nein. Es war... Wissen. Und Schmerz. Sie wusste es. Sie hatte es selbst erlebt.
Mile betrachtete seine Freundin aufmerksam. Es war ihr nicht anzusehen, aber die Art, wie sie gerade von diesem schrecklichen Ort, diesen Folterkammern ohne Wiederkehr gesprochen hatte...
»Du...«, Mile suchte nach Worten.
»Ich glaube ja nicht, dass sie jetzt irgendwie Verräter oder so sind... Aber ich glaube, sie haben die drei absichtlich fliehen lassen!«, unterbrach ihn Red.
»Aber weshalb? Was wollen sie damit bezwecken?«, fragte Mile. Es hatte sowieso keinen Sinn, sie jetzt zu fragen. Hey Schatz, kann es sein, dass du auch mal in einer dieser Folterkammern gesessen und halb tot gequält worden bist? Nein. Sie würde ihm nichts erzählen. Das wusste er. Oder?
»Vielleicht wollten sie uns warnen...«, antwortete Red, doch Unsicherheit schwang in ihrer Stimme mit. Sie glaubte selbst nicht daran.
Hufgeklapper war zu hören. Mile drehte sich in seinem Sattel etwas herum, um den Reiter besser sehen zu können.
»König Drosselbart? Was ist los?«, fragte er den König.
Drosselbart ritt, zusammen mit den anderen Monarchen wenige Meter hinter ihnen. Nur ab und zu, an einer Kreuzung oder Weggabelung war König Orion, der das Labyrinth besser als seinen langen Bart kannte, mit seinem Reittier, das aussah, wie eine Kreuzung aus Maulwurf und Elefant, zu ihnen nach vorne geritten, um ihnen den Weg zu weisen. Das Reittier war ein sogenannter Riesenwühler gewesen, wie Red ihn später aufgeklärt hatte. Sie sahen aus wie Maulwürfe, nur sehr, sehr viel grösser. Ausserdem besassen diese Tiere kein kuschliges Fell, sondern sie waren mit einer dicken Hornhaut überzogen und an den rüsselartigen Schnauzen wuchsen lange, gebogene Stosszähne. Ausserdem besassen die Riesenwühler ein gruseliges Gebiss aus tausenden nadelartigen Zähnen.
Doch nun sass da Drosselbart auf einem schwarzen Schlachtross, aus dessen Nüstern Flammen züngelten und dessen Augen rot glühten.
»Das ist ein trojanisches Teufelspferd. Sehr aggressive und gefährliche Biester. Aber sie sind auch die Erzfeinde der weissen Schlammnymphen und damit sehr nützlich für uns...«, rief König Drosselbart, als er Miles Blick folgte.
Eine Welt aus Monstern, dachte Mile, dem ein Schauer über den Rücken lief.
»Alles in Ordnung, König?«, rief Mile Drosselbart zu.
»Die Krieger sind tapfer. Keiner würde sich beschweren. Es ist alles in Ordnung. Aber wir werden bald aus dem Labyrinth herauskommen. Die anderen Rebellen werden dort, am Eingang, zu uns stossen. Sie werden uns zu ihrem Lager im Wald bringen. Dort werden wir die Nacht verbringen. Am nächsten Tag werden wir von dort aus aufbrechen. Aramesia liegt dann nur noch eine Tagesreise entfernt. Deine Schwester wird knapp eine Woche später zu uns stossen. Und dann wird es an euch liegen. Miss Rouge und Offizier Aquelliėre mit seinem Drachen werden euch begleiten.«
Mile verdrehte die Augen. Na Super! Macho-Elf mit samt riesen Echse würden auch noch mitkommen!
»Ist in Ordnung. Ich hoffe nur, Sabrina schafft es...«
»Genau das ist dein Problem Mile!«, stöhnte Red und zog ihr langes Schwert, um die Klinge zu polieren.
»Wie bitte?«, fragte er verwundert.
Red liess von ihrem Schwert ab und drehte sich seufzend zu ihm um.
»Sabrina ist eine junge Frau. Und nicht nur das! Sie ist die Eisprinzessin. Die Herrscherin. Die Gebieterin über Schnee und Eis. Sie kann für sich selbst sorgen. Einem Angreifer pustet sie das Hirn mit einer Salve Eiszapfen weg und ich glaube mit Erillion wird sie auch gut allein fertig!«
Mile sagte nichts. Er nickte Drosselbart zu und der fiel wieder zurück um an der Seite Orions zu reiten.
Sollte das heissen, er würde Sabrina bemuttern? Schweigend ritt er weiter.

Uralte Fassung (1): Twos - Die Prophezeiung von Feuer und EisWhere stories live. Discover now