Kapitel 19 - Trauriger Mörder, lass mich gehen

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~Mile~

Der Eingang wurde von zwei Werwölfen bewacht. Einer der Beiden hatte seine menschliche Haut abgelegt und nun bedeckte dichtes, dunkelgraues Fell den Körper des Tieres. Der Wolf war gross und sehr muskulös. Die Muskelstränge zeichneten sich deutlich unter dem glatten Fell ab. Er knurrte, als sie auf das Tor zukamen.
»Ruich! Das sind die Herrscher!«, knurrte der Werwolf in Menschengestalt.
»Aber die zwei dort nicht!«, zischte der Wolf. Seine Stimme war kehlig und seine Worte klangen wie Bellen.
Der Wolf meinte Eril und Red.
Eril trat lässig auf den bepelzten Gestaltenwandler zu und deutete auf seinen Ohrring. Das Schmuckstück aus grünem, metallartigem Material schimmerte.
»Erillion Aquelliėre aus dem Lande Virid'agru. Drachenreiter und Oberster Offizier. Ich bin autorisiert, LaRuh jederzeit verlassen oder betreten zu dürfen«, rief er und stolzierte, Sabrina an der Hand haltend, durch das Tor.
Mile verdrehte die Augen.
»Mach dir nichts draus. Jedes Volk hat seine Eigenheiten. Die Elfen sind nun mal sehr... von sich überzeugt. Werwölfe sind sehr misstrauisch. So sind die Völker. Ändere sie nicht, sondern versuche, ihre Fähigkeiten zu nutzen«, flüsterte Red ruhig und zog Mile weiter.
Der Wolf baute sich knurrend vor dem, in Rot gehüllte Mädchen auf.
Mile schob sich vor seine Freundin und starrte auf da Tier hinab.
»Du wirst sie durchlassen! Sie gehört zu mir!«, knurrte Mile. In seiner Stimme schwang eine uralte, unergründliche Autorität mit.
Der Wolf legte die Ohren an und duckte sich, doch er wich nicht zurück.
»Ruich! Ich an deiner Stelle würde das lieber lassen! Sonst endest du als Hot Dog!«, schallte es da durch den Gang. Mile hob den Kopf.
Ein Mann stand im Tor.
Er war gross. Seine Brust war muskulös, doch seine Gestalt war zierlich. Er war altmodisch und elegant gekleidet. Er trug einen langen Mantel aus sehr edlem, braunem Stoff, der mit bunten Pailletten, Knöpfen und Stickereien übersät war. Der innere Teil des Mantels war mit lila Samt ausgekleidet. Darunter trug er eine schwarze Weste, ein himmelblaues Rüschenhemd und eine dunkle Hose. Schwarze Lackschuhe klackten auf dem Boden. An dem Hals des Fremden prangte eine riesige, schwarze Fliege, die mit silbernen Punkten übersät war. Aus den Taschen seines Mantels hingen bunte Bänder, Fäden, Glöckchen, Stofffetzen und Knöpfe. In seine Ärmel, aus denen himmelblaue Rüschen hingen, waren Stecknadeln gesteckt. Seine Hände steckten in ledernen Halbhandschuhen. Über seiner Brust hing eine Schärpe aus Garnspulen. Der Mann hatte ein sehr freundliches Gesicht. Wangen und Lippen hatten die Farbe von reifen Himbeeren. Sein Lächeln war sympathisch, seine grünblauen Augen wach und klar. Er hatte markante Züge und eine schmale Nase. Auf seinem verstrubbelten, dunkelblonden Haar trug er einen riesigen Zylinder. Er war schwarz und mit vielen goldenen und silbernen Stickereien übersät. Ein langes, azurblaues Band, das man mit einem wirren Muster, das dem Astwerk eines Baums ähnelte, bestickt hatte, war um den Zylinder gebunden und hing dem Unbekannten über die breite Schulter. Im Zylinder steckten einige lange, spitze Stecknadeln, dessen Köpfe die Form von Tieren hatten.
»Jeremy Topper mein Name. Ich bin der verrückte Hutmacher! Wächter der Prophezeiungen und Schwertmeister von hohem Rang«, trällerte der Hutmacher und begann wie wild zu lachen.
»Jeremy!«, rief Red und ging auf den Hutmacher zu. Dieser verbeugte sich tief und sein Zylinder rutschte ihm vom Kopf. Er rollte über den kalten Steinboden des Labyrinths und stoppte kurz vor Mile.
Der junge Herrscher beugte sich hinab und hob den Zylinder auf. Er war wunderschön verarbeitet.
»Oh, der junge Lichterlord. Ganz wie Euer Vater, seht Ihr aus! Und sein feuriges Temperament habt Ihr auch. Und nun kommt herein! Ruich! Aus!«, plapperte Jeremy, sah den Werwolf warnend an und kam dann auf Mile zugeeilt. Er schnappte ihm den Zylinder aus der Hand und setzte ihn sich wieder auf.
Red lächelte Mile an, als sie sein verdutztes Gesicht sah. Sie nahm ihn an der Hand und zog ihn durch das Tor.
»Schliess die Augen! Es wird dich umhauen. LaRuh ist zwar nicht Kamen'strany, aber es ist trotzdem wunderschön...«, flüsterte Red.
Mile schloss die Augen. Es wurde schwarz um ihn und er konzentrierte sich auf seine anderen Sinne.
Er hörte Wasserrauschen, die fröhliche Stimme des Hutmachers und Reds Atem neben ihm. Er fühlte, wie die Luft um ihn herum wärmer wurde, als er durch das Tor trat und er spürte Sabrinas kalte Aura. Er roch den scharfen Duft Gewürze, die von einem Marktplatz herüber geweht sein mussten. Er schmeckte den kalten Granit, der sie umhüllte, auf der Zunge. Durch seine geschlossenen Augenlieder drang Licht. Helles, warmes Licht.
Komisch, dachte er, LaRuh ist doch eine riesige Stadt unter der Erde! Wo kommt das Licht her?
Neben ihm sog Sabrina scharf die Luft ein. Mile hörte Eril leise kichern.
Red drückte seine Hand.
»Augen auf, Lichterlord!«
Und Mile öffnete dir Augen.
Stein. Überall Stein.
Die Stadt glänzte. Häuser aus poliertem Granit in allen Farben. Strassen, Häuser, alle waren sie direkt aus dem Boden geformt worden. Die Stadt war an einem Stück. Doch nichts war grau oder kalt. Die Gebäude waren glatt poliert und so konnte man die Farben des Gesteins wunderbar erkennen. Ein Marktplatz aus rosanem Quarz, ein Tempel aus rotem Jaspis und Lapislazuli, ein Brunnen aus grünem Granit... Dir Wände der Höhle waren ungeschliffen. Rauer Stein umgab die steinerne Stadt. Doch hunderte von Tunneleingängen durchlöcherte die Felswand wie Schweizer Käse. Aus den Tunneln strömten Wesen aller Völker. Die Stadt selbst war wohl nicht alles. Sie schien nur ein freiräumiger Versammlungsraum zu sein. Das wahre Leben schien sich in dem verzwickten Tunnelsystem abzuspielen. Doch in das Tunnelsystem der Rebellen konnte man nur eindringen, wenn man dieses Tor hier passierte...
»Es ist unglaublich!«, seufzte Sabrina.
»Aber von wo kommt das Licht?«, fragte Mile. Er blickte zu der Decke der Höhle. Mile kniff die Augen schnell wieder zu. Irgendetwas dort oben leuchtete, so hell wie die Sonne!
Der Zwerg, der sie begleitet hatte, grunzte zufrieden.
»Hutschmack!«
»Gesundheit«, meinte Sabrina.
Der Zwerg sah sie beleidigt an und schüttelte den Kopf.
»Hutschmack!«, sagte er erneut.
Eril lachte.
»Zwergensprache. Hart und plump. Das Licht dort oben kommt von einem speziellen Stein. Von der weissen Orchidee. Bei uns Elfen auch „Prakėsa lamėe" genannt. Ein riesenhafter, durchsichtiger Diamant. Er wurde von König Norit, dem ersten Zwergenkönig eigenhändig geschliffen. Er hat den Stein so geformt, dass wenn man ein Helligkeit spendendes Objekt, wie zum Beispiel eine Kerze, an eine bestimmte Stelle platziert, der Diamant das Licht so oft in sich bricht, dass er eine ganze Stadt erhellen kann!«, erklärte Eril und ignorierte die finsteren Blicke, die der Zwerg ihm zuwarf.
»So meine Freunde, und nun kommt ihr mit mir! Tohock, du hast deine Sache gut gemacht! Aber nun begib dich bitte wieder Auf deinen Posten!«, trällerte Jeremy und legte seine Arme um die Geschwister. Sanft schob er sie in die Stadt hinein.
Eril protestierte und hechtete Sabrina hinterher, doch Red hielt ihn auf und redete leise auf ihn ein. Eril senkte den Kopf und folgte dem Hutmacher und den Herrschern einige Meter weiter hinten.
»Kinder, Kinder! Ihr müsst mir alles bei einer guten Tasse Tee erzählen! Wie läuft es in der sterblichen Welt? Tragen die Menschen noch immer diese Büsche aus Haar auf dem Kopf? Oder ist die Dauerwelle wieder in Mode? Was ist aus diesen Pilzköpfen geworden? Beatles oder so... Und fliegt ihr noch immer mit diesen stählernen Drachen durch die Luft?«, bombardierte der Hutmacher sie sofort mit Fragen.
»Wieso wissen sie all diese Sachen über unsere Welt?«, fragte Sabrina und runzelte die Stirn.
»Tjaja... Ich liebe eure Welt Kindchen... Die Rebellen haben immer wieder einige Wesen geschickt, um nach euch oder besser gesagt, nach euren Eltern zu suchen. Mein herzliches Beileid übrigens...«
Mile starrte den Hutmacher entgeistert an.
»Sie waren schon einmal in unserer Welt?«, fragte er.
»Oh, nein, nein!«, rief der Hutmacher und wedelte mit den Armen, »Aber mein Freund Grinsekatze und Märzhase. Und für was hat man einen Hut, nicht wahr?«, lachte Jeremy. »Ausserdem gefällt mir eure Mode, eure Kunst, Kultur... Ach, die sterbliche Welt ist so interessant!«, plapperte Jeremy weiter.
Sabrina lachte und meinte: »Sie kennen sich anscheinend ziemlich gut mit unserer Welt aus. Was halten Sie denn von all den Parodien, die von Ihrer Geschichte gemacht werden. Also Alice im Wunderland... Die Filme und all das...«
»Filme? Was ist das, kleine Eisprinzessin? Ich habe gespürt, dass in meinem Märchen erneut herumgepfuscht wurde. Immer wieder wird an uns herumparodiert! Wieso lässt man uns nicht einfach in Ruhe? Vor allem dieses Disneygesülze! Wobei sie mich in dieser neuen Verfassung, die du gerade erwähnt hast, junge Herrscherin, eigentlich sehr gut getroffen haben...«
»Ihr meint, wenn jemand etwas neues über Eure Märchenfiguren... schreibt oder filmt... dann werdet ihr... Verändert?«, fragte Mile erschrocken und drehte sich mit besorgtem Blick zu seiner roten Freundin um.
»Es kommt darauf an, wie populär die neue Fassung wird. Unsere arme Rose, auch als Dornröschen bekannt, hat zum Beispiel, nach dieser neuen Verfassung von Disney, hunderte von Jahren verschlafen und nachdem sie erwacht war, Monate lang nur noch auf den Namen Aurora gehört! Das war ein Desaster, das kann ich euch sagen!«, trällerte der Hutmacher.
Mittlerweile hatten sich einige Wesen um sie versammelt.
»Sind das die Herrscher?«
»Ja, sie sind es! Es sind Eira und Ignatzius!«
»Wir sind gerettet!«
»Ignatzius! Eira! Unsere Retter!«
»Die Herrscher sind zurückgekehrt! Die Eisprinzessin und der Lichterlord!«
Die Völker jubelten ihnen zu. Sie klatschten, lachten und streckten ihre Hände nach den Geschwistern aus, nur um sie zu berühren.
Ignatzius und Eira...
Das waren die Namen ihrer Eltern... Hielten die Rebellen sie etwa für ihre verschwundenen Eltern?
Sabrina schluckte schwer. Welche Erwartungen würden die Rebellen an sie haben? Wie konnten sie ihren Eltern, die in dieser Welt Helden gewesen waren, gerecht werden? Diese Sache war doch viel zu gross für zwei einfache Waisenkinder!
Wie würden die Rebellen wohl reagieren, wenn sie erführen, dass ihre alten Herrscher verschwunden, vermutlich tot waren? Würden sie der neuen Generation Herrscher vertrauen und ihnen folgen? Und wenn ja... wie sollten sie und ihr Bruder diese Dunklen besiegen?
Doch darüber würde sie sich später den Kopf zerbrechen, denn nun kamen immer mehr jubelnde Rebellen hinzu, streckten die Hände nach ihnen aus und priesen sie an.
»Das Joch der Dunklen wird bald zu Ende und wir frei sein!«
»Ignatzius! Eira!«
»Die Herrscher der Gezeiten!«
Sabrina wirkte etwas überrascht und verschreckt, lächelte etwas gezwungen und nickte den Rebellen zurückhaltend zu. Ihr war nicht wohl...
Mile hingegen lachte laut und winkte. Er schüttelte wildfremden Wesen die Hand, Flosse, Pranke oder Kralle. Ob wunderschöne Elfe oder hässlichster Zyklop, allen schenkte er sein sonniges Lächeln.
Mile. So war er nun einmal. Man konnte nicht anders; man musste ihn mögen...
Plötzlich sprang ein alter Mann vor Jeremy Topper und die Geschwister und packte Sabrina an den Haaren. Sie schrie erschrocken auf und verlor den Halt. Hart schlug sie auf dem Boden auf. Der Mann, der ebenfalls zu Boden gegangen war, rappelte sich auf und zog Sabrina an der Kapuze ihres Umhangs, den sie heute Morgen in ihrem Schlafgemach, zusammen mit den Stiefeln, einer Ledernen Hose und einer mit Drachenschuppen gepanzerten Tunika, aufgefunden hatte, hoch. Er riss sie an sich und presste ihr einen Dolch an den Hals.
Die Rebellen schrien auf und wichen zurück. Mütter schnappten sich ihre Kinder und eilten davon.
Der Lärm war ohrenbetäubend, doch ein Wort wurde immer wieder panisch ausgerufen, wie ein furchtbarer Singsang.
»Attentat!«

Uralte Fassung (1): Twos - Die Prophezeiung von Feuer und EisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt