3. Das erste Aufeinandertreffen

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Angespannt steige ich Stunden später mit meiner Mutter aus dem Auto. Wir haben beide Angst vor dem, was uns erwartet. Es ist nicht so, als wüssten wir nicht, dass es Missbrauch gibt, aber es ist etwas völlig anderes, wenn man die Ergebnisse mit den eigenen Augen zu sehen bekommt. Aufmerksam betrachten wir den Häuserblock im Hechtviertel und sind angenehm überrascht über die freundliche Person, die uns in die Wohnung lässt.

„Guten Tag! Sie müssen die Richters sein. Ich bin Sylvia Treue", begrüßt sie uns.

„Guten Tag, Frau Treue. Vielen Dank, dass Sie sich bereiterklärt haben, Miriam so kurzfristig aufzunehmen! Ich heiße Sabine und das ist meine älteste Tochter, Tamara", stellt uns meine Mutter vor.

„Hallo, es freut mich, Sie kennenzulernen. Wie geht es Miriam?", erkundige ich mich.

Sylvias herzliches Lächeln verliert etwas von seinem Glanz. „Körperlich besser, aber es wird eine Weile dauern, bis sie alles verarbeitet hat. Miriam erfuhr erst gestern, dass sie ein Werwolf ist." Traurig sieht sie uns an. „Ich bin nun wirklich die falsche Adresse, wenn es darum geht, ihr zu erklären, was das bedeutet. Bis gestern habe ich schließlich auch noch nie einen gesehen."

Valerias Großmutter ist ein Schatz. Dafür, dass sie gestern ihre Premiere mit Vampiren und Wölfen hatte, ist sie erstaunlich entspannt.

„Dafür sind wir ja hier", tröstet meine Mutter sie. „Meine zwei jüngsten sind ungefähr in Miriams Alter. Ich denke, die Kinder werden sich gegenseitig unterstützen."

„Ich hoffe es. Soweit ich das beurteilen kann, ist Miriam ein liebes Mädchen. Sie reagiert nur noch recht sensibel auf das Thema. Irgendjemand muss ihr eingeredet haben, dass sie ein Monster ist", erklärt Sylvia.

Ich spüre, wie Wut in mir aufsteigt. Wenn ich diese schrecklichen Pflegeeltern in die Finger bekomme, erleben sie ihr blaues Wunder! Aber erst einmal hat das Kind Vorrang.

„Wo ist Miriam?", erkundige ich mich daher.

„Im Gästezimmer. Sie ist ein bisschen schüchtern", Valerias Großmutter lehnt sich zu uns. „Und ich denke, sie hat Angst, weil sie nicht weiß, was sie erwartet", sagt sie leise zu uns.

„Das ist nur zu verständlich", meint meine Mutter und ringt um ihre Fassung.

„Ich werde mal vorsichtig klopfen. Meine Freundin Erika hat sie ja gestern gefunden."

Sylvia nickt. „Gern. Mit Erika hat Miriam sich gestern gut verstanden. Sie wäre gern mit ihr gegangen, aber das ist ja nicht möglich."

„Erika kann gut mit Kindern umgehen, aber ich denke, dass Miriam eine richtige Familie besser tun würde. Sie hat so oder so eine ereignisreiche Zeit vor sich", sage ich.

„Wahrscheinlich. Das Gästezimmer ist das zweite auf der linken Seite", erklärt mir unsere Gastgeberin.

Ich bedanke mich und folge der Beschreibung. Vor einer unscheinbaren Holztür bleibe ich stehen und klopfe. „Miriam? Ich heiße Tamara, darf ich reinkommen?"

Auf der anderen Seite der Tür herrscht Stille. Dann höre ich dank meiner erhöhten Sinne ihre leise Antwort.

„Ja."

Vorsichtig öffne ich die Tür und betrete langsam den Raum. Ich will das Mädchen keines Falls verängstigen. Entsetzt schnappe ich nach Luft, als sie sich zu mir umdreht und ich die Ausmaße ihrer Verletzungen sehe. Auf ihrem zarten Gesicht sind mehrere grünlich blaue Hämatome zu sehen und ihre Unterlippe ziert ein Grind. Da helfen auch die braunen, schulterlangen Haare nicht, mit denen sie versucht, einen Teil der Verletzungen zu verdecken. Das Mädchen ist schlank, fast schon mager und schaut mich ängstlich aus großen, braunen Augen an. Ihre schmalen Ärmchen hat sie um sich geschlungen, als würde ihr der Brustkorb wehtun.

Wolfsblues - XXL Leseprobe!!!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt