Reise in den Harz

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„Lass uns über die Weihnachtstage in den Harz fahren. Meine Tante stellt uns ihre Ferienwohnung zur Verfügung", meinte Janne und fläzte sich auf meiner Bettcouch.

„Und deine Eltern? Sind die nicht sauer, wenn du nicht mit ihnen feierst?"

„Blödsinn, die sind doch auf Malle." Sie angelte sich ihr Wasserglas und schlürfte ihren Cocktail.

„Fühlst du dich nicht einsam, wenn niemand aus der Familie da ist?", fragte ich. Ich beneidete meine Freundin um ihre Familie. Seit drei Jahren war ich Vollwaise und fühlte mich mit meinen zwanzig Jahren noch gar nicht reif genug, alles allein zu meistern. Wie oft vermisste ich meine Mutter, um etwas mit ihr zu besprechen. Dabei hatte ich Glück gehabt, denn Janne und ihre Familie hatten mich wie ein eigenes Kind unter ihre Fittiche genommen. In letzter Zeit hatte ich allerdings versucht, etwas Distanz zu halten, ich wollte sie nicht zu sehr belasten.

„Ich bin froh, wenn ich allein bin. Sonst mischt sich Mutter in alles ein. Nie passt ihr etwas, weder die Kleidung noch die Frisuren und erst recht nicht mein Umgang. Die einzige Freundin, die sie akzeptieren, bist du. Meine Sportskameraden sind ihr zu schlicht und überhaupt, wie kann man bloß Fußball spielen, wenn es wenigstens Tennis oder Hockey wäre. Und dann würde ich mit diesen Snobs verkehren, das wäre ihr recht." Sie grinste und zwinkerte mir zu. „Das ich mein Studienfach gewechselt habe und seit ein paar Wochen Design statt BWL studieren, wissen sie noch gar nicht und das ist gut so. Das werde ich ihnen erst kurz vor dem Abschluss gestehen, sonst habe ich keine ruhige Minute mehr."

Ich schüttelte den Kopf, wieso kam Janne mit ihren Eltern nicht klar, die waren doch so nett. Und dass sie sich Sorgen machten, war verständlich. Wahrscheinlich hatte Janne in den letzten Monaten dafür gesorgt, dass ich nicht bei ihnen eingeladen wurde, damit ich sie nicht verriet.

„Gut, dann fahren wir in den Harz. Was muss ich mitnehmen?", gab ich nach. Ich war froh, die Feiertage nicht allein verbringen zu müssen.

„Warme Sachen, dann können wir rodeln und Ski fahren."

„Du hoffst auf Schnee?" Ich schaute skeptisch aus dem Fenster. Momentan sah es überhaupt nicht nach Schnee aus, dazu war es viel zu warm.

„Klar, wenn nicht, gehen wir eben in die Disko, sitzen am Kamin und lesen. Hauptsache entspannen."

„Musst du nicht lernen?" Für Janne war das Leben so einfach, sie machte sich nie Sorgen. Schon in der Schule hatte ich sie immer getriezt, damit sie lernte.

„Nö, wieso, es sind doch Ferien."

Ich schluckte, ich würde auf jeden Fall die Bücher einpacken, ich erhielt zwar Waisenrente, musste damit aber zurechtkommen und ewig würde ich sie auch nicht erhalten. Also musste ich mich sputen, um rechtzeitig fertig zu werden.

„Was ist mit Weihnachtsschmuck?", fragte ich stattdessen.

„Ist vorhanden, ich nehmen vorsichtshalber eine Lichterkette, Kerzen und ein paar Sterne mit."

Am Samstag vor Weihnachten holte Janne mich pünktlich um zehn Uhr ab. „Die Straßen sind frei. Es soll aber in den nächsten Tagen schneien."

Ich nickte, ich hatte genug warme Kleidung eingepackt, die Fachbücher und etwas zum Schmökern. Aber dazu würde ich wohl wenig Zeit haben, ich musste unbedingt den Stoff pauken, Anfang Februar waren die Klausuren.

Wir kamen auf der Autobahn gut bis in den Harz. Danach wurden die Straßen schmaler und steiler. Bei einem Discounter im letzten größeren Ort hielt Janne an und wir machten einen Großeinkauf.

„Ich habe keine Lust, ständig ins Tal hinunterzufahren. Oben gibt es nur einen Bäcker und einen Tante-Emma-Laden", erklärte Janne und lud den Einkaufswagen großzügig voll.

Wir besorgten alle möglichen Leckereien, die ich mir normalerweise verkniff, um über die Runden zu kommen. Dabei jobbte ich nebenbei als studentische Hilfskraft, aber dafür gab es leider nicht allzu viel Geld. Bei Janne sah es anders aus. Ihre Eltern waren ziemlich wohlhabend und sie bekam monatlich viel Taschengeld. Trotzdem wollte ich außer der freien Wohnung nichts von ihr annehmen und wir stritten uns an der Kasse, wer bezahlt.

„Wir rechnen hinterher ab", lachte sie und schob ihre Scheckkarte in das Kartenlesegerät.

Die Wohnung war in einem exklusiven Appartementhaus mit Tiefgarage. Da der Fahrstuhl nicht fuhr, schleppten wir das Gepäck vier Etagen hoch und mussten wegen der Lebensmittel und des Baumschmucks dreimal laufen.

„Wie gut, dass ich mir keinen Smart angeschafft habe, dann hätte wir einen Leihwagen gebraucht." Janne stelle schwer atmend den Karton mit dem Weihnachtsschmuck im Flur ab.

„Smarts sind auch unpraktisch, viel zu klein", murmelte ich, als ich wieder Luft bekam. Jannes Koffer war noch schwerer als meiner gewesen.

„Sag das nicht, wenn ich abends einen Parkplatz suche, beneide ich die Smartfahrer immer. Die können sich notfalls quer in eine Lücke stellen."

„Deswegen fahre ich Fahrrad." Zum Glück wohnte ich in der Nähe der Uni und konnte sie so bequem erreichen.

„Nee, dazu bin ich zu faul."

Tja, ich hatte noch nicht einmal einen Führerschein. Wozu auch, wenn ich kein Auto hatte und keine Eltern mit Auto? Sobald ich Geld verdienen würde, würde ich es nachholen. Zuerst einmal musste ich aber Informatikerin werden. Computer begeisterten mich schon immer. Ich hatte den Schwerpunkt Robotik gewählt, weil mir diese Technik gefiel. Ihr gehörte sicher die Zukunft, ob es nun Roboter in Fabriken oder in Krankenhäusern und Altenheimen waren.

Endlich war unser Gepäck oben und Janne setzte einen Kaffee auf. Während er durchlief, schauten wir uns die Wohnung an.

„Ich bin vor Jahren mit meinen Eltern hier gewesen, aber das ist schon so lange her." Janne öffnete eine Tür, die in ein Balkonzimmer führte.

Es gab zwei Schlafzimmer und ein großes Wohnzimmer mit Essecke und sogar einem Kamin, dazu eine kleine Küche und ein Bad mit Dusche und Badewanne.

„Hast du im Haus jemanden gehört?", fragte ich.

„Nee, die kommen sicher erst nach Weihnachten. Die Feiertage wollen wohl die meisten daheim verbringen."

„Dann sind wir hier ganz schön einsam." Ein Schauer lief über meinen Rücken. So ganz wohl fühlte ich mich nicht dabei.

„Einen Hausmeister gibt es", Janne zuckte die Achseln. Dann kniete sie sich vor den Kamin und schichtete Holz auf. „Im Keller soll es einen Holzvorrat geben, wir können also verschwenderisch sein", erklärte sie. Bis sie das Feuer anhatte, lief ich noch einmal herum und drehte die Heizungen hoch. Es war doch ziemlich kalt in der Wohnung.

Draußen begann es zu schneien. Janne schaltete das Radio an. Es wurden starke Schneefälle angekündigt.

„Wie gut, dass wir gleich eingekauft haben", meinte sie.

Erst einmal aßen wir Lebkuchen und tranken den Kaffee, kochen wollten wir am Abend. Wir saßen gemütlich am Tisch, als es an der Tür klingelte.



Schneekatastrophe zu WeihnachtenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt