"Brüder und Schwestern" fing er an "Heute schreiben wir Geschichte!"

Alle streckten die Fäuste in den Himmel, grölten und jubelten Nicks Worten zu. Einige stampfen oder klatschen. Der Boden schien unter den Rufen und Klatschen zu beben. Im Gegensatz zu der Stille eben oder dem bedrückenden Flüstern vorhin, war das wie das Brüllen eines Löwen. Wie die Kampfansage eines Wolfrudels. Aber es war genau das, was wir alle gebraucht hatten. Die ganze Anspannung und Nervosität wurde jetzt zu Kraft, Energie und Adrenalin. Unsere Angst wurde zu Wut. Und es war ein unglaubliches Gefühl, Teil dieser Gruppe zu sein. Ich fühlte mich so stark wie noch nie. Deswegen konnte ich nicht anders, als ebenfalls meine Faust nach oben zu strecken und mit zu jubeln. Mit einem Lächeln im Gesicht. Mein Herz schlug wie verrückt, heute werde ich kämpfen, mit all diesen wunderbaren Leuten an meiner Seite. Wie Nick so schön gesagt hat, unseren "Brüdern und Schwestern". Zusammen werden wir der Unterdrückung ein Ende setzten, davon war ich in diesem Moment fest überzeugt. Es dauerte eine Weile, bis sich alle wieder beruhigt hatten und auch der letzte seine Faust wieder gesenkt hatte. Dann herrschte eine seltsame Stille. Als ich zum Gleiskettenfahrzeug blickte, sah ich, dass Nick inzwischen verschwunden war. Stattdessen stand Bastian oben und wirkte mit seinen muskulösen, vor der Brust verschränkten Armen und dem breitbeinigen Stand unglaublich einschüchternd. Seine Züge zierte ein siegessicheres Grinsen "Ab jetzt leise. Sonst hört man euch Trampeltiere in der ganzen Stadt. Folgt mir und baut bitte keinen Mist". Mit diesen Worten kletterte er vom Gleiskettenfahrzeug und verschwand damit aus meinem Blickfeld, da ich zu klein war und zu viele große Leute zwischen mir und Bastian standen. Allerdings merkte ich, wie sich die Masse langsam in Bewegung setzte. Ich spürte, wie Astrid nach meinem Arm griff, um mich im Gedränge nicht zu verlieren. Zusammen ließen wir uns langsam von der Masse mit treiben. Einige hatten wohl Taschenlampen bekommen, um den Weg zu erleuchten, denn als wir in den nachtschwarzen Tunnel traten, leuchtete nur hier und da der Strahl einer Taschenlampen. Astrid und ich hatten das Glück, genau vor einer Gruppe Jungs zu laufen, in der einer eine Taschenlampe bekommen hat. Und dieser beleuchtete im Grunde genau unsere Füße, so dass wir den Weg immer mehr oder weniger sahen und nicht über die alten Eisenbahnschienen stolperten. Andere hatten da weniger Glück, immer wieder ertönten kurze Schmerzschreie, erschrockene Rufe oder ein "Pass doch auf!". Wir blieben davon verschont. Trotzdem kam mir die Prozession durch den dunklen Tunnel unendlich lang vor. Ab und zu bogen wir ab, doch das Gängesystem schien kein Ende zu nehmen. Dann blieben endlich alle stehen, irgendwo schien es sich zu stauen. Ich stellte mich auf Zehenspitzen und versuchte zu erspähen, was los war. Astrid tat es mir gleich und obwohl sie mich um einige Zentimeter überragte, hatte sie genau so viel Erfolg wie ich: gar keinen. Freundlicher Weise beugte sich der Junge mit der Taschenlampe hinter uns zu uns herunter und erklärte "Da vorne ist eine Leiter, an der wir raus klettern, allerdings können höchstens drei Leute auf die Leiter, kann also noch etwas dauern". "Danke" sagte ich, bevor er sich wieder zurück lehnte. Eine Leiter also. Ich war wirklich gespannt, wo wir raus kommen.

Nach schir unendlichen Minuten warten war ich auch endlich an der Leiter. Meine Finger um klammerten die kalten, eisernen Sprossen und ich begann nach oben zu klettern. Das Licht, dass durch die Luke von oben fiel, machte die Sache leichter. Es gab nur ein kleines Problem. Der letzte Meter Leiter, bevor man die Oberfläche erreichte, fehlte einfach. Für große Leute war das sicher kein Problem, sie könnten einfach nach oben greifen und sich an der Kante hoch ziehen. Doch ich mit meinen kurzen Armen kam da nicht weit. Freundlicherweise streckten sich mir von oben einige helfende Hände entgegen. Wahllos ergriff ich zwei. Eindeutig Männerhände. Mit Leichtigkeit zogen sie mich nach oben, bis ich meine Knie auf den Boden absetzten konnte. Sie ließen mich los und stand auf. Dann lächelte ich sie dankbar an. Die beiden Jungs nickten mir nur knapp zu und beugten sich dann wieder runter, um auch Astrid, die direkt hinter mir die Leiter erklommen hatte, hoch zu helfen. Ich wandte mich ab und schaute mich um. Wir standen auf dem Mittelstreifen einer Straße und kamen alle aus einem Gully geklettert. Als ich mich umblicke, merkte ich auch, was für eine Straße es war. Auf der einen Seite wurde sie normal von Wohnhäusern begrenzt. Auf der anderen jedoch baute sich groß eine Mauer auf, die dem nächst höheren Codebezirk von diesem hier trennte. Wir befanden uns also auf einer Mauerringstraße. Es war noch ziemlich dunkel, nur die schmale Mondsichel und die Straßenlaternen beleuchteten die Straße. Jedoch sah man im Osten schon, wie der Himmel etwas heller wurde. Als ich mich wieder zu unserer Gruppe umdrehte, sah ich, dass inzwischen fast alle da waren. Bastian stand mit ein paar Jungs und Mädels, unter denen auch Astrid war, abseits und redete auf sie ein. Immer wieder sah er nervös auf seine Armbanduhr. Wann es wohl los ging? Ich wippte ungeduldig auf und ab. Ein schrilles quitschen und knirschen ließ mich zusammen zucken. Als ich herum wirbelte, war es jedoch nur der Gullydeckel, der zurück an seinen Platz gezogen wurde. Trotzdem stellten sich mir alle Haare zu Berge. Kaum war das Geräusch verklungen, hörte ich Bastian leise rufen "Leute! Kommt mal alle her!". Sofort rückte die ganze Truppe näher zusammen um Bastian. Da ich so klein war, schaffte ich es, mich relativ weit nach vorne zu boxen. Als wieder Ruhe eingekehrt war, zischte Bastian so leise es geht, aber so laut, dass es alle verstanden "Ich werde jetzt gleich einen Countdown runter zählen. Dann müsste Nick die Türen öffnen. Haltet euch bereit. Sobald sie offen sind, müssen wir rennen. Wir haben nicht viel Zeit. Die Verteidiger vorne, dahinter die mit Sprengstoff. Ihr habt alle einen oder mehrere Partner. Bleibt zusammen und haltet euch an den Plan. Keine Abweichungen, verstanden? Von den anderen Stützpunkten kommen auch Rebellen, wir dürfen uns auf keinen Fall gegenseitig im Weg stehen. Also los, für die Freiheit!". Die Truppe um Bastian löste sich wieder etwas auf. Die Leute verteilten sich, gingen zu ihren Gruppenmitgliedern oder gingen auf die Tür in der Mauer zu, die in den nächsten Codebezirk führte. Ein angespanntes Schweigen herrschte, alle verinnerlichten nochmals ihren Plan. Dann durchschnitt Bastians Stimme die Stille "Zehn, neuen, acht...". Ich sah zu ihm, sein Blick klebte auf seiner Armbanduhr. "Sieben, sechs, fünf..." zählte er mit ruhiger Stimme weiter. Ich sah mich hektisch nach Astrid um, bemerkte jedoch schnell, dass diese direkt hinter mir stand und mir aufmunternd zu lächelte. "Vier, drei...". Jetzt bemerkte ich meine Angst. Meine schwitzigen Hände konnte ich an meiner Hose abwischen, aber gegen mein viel zu schnell schlagendes Herz konnte ich nichts tun. "Zwei...". Bumm bumm. "Eins...". Bumm bumm. "Null".


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