Allein

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Er konnte seine Beine kaum noch heben. Teilweise ging er auf alle viere, aber er musste weiter, die Treppe hinauf. Seine Augen brannten, Tränen liefen ihm unentwegt über das Gesicht. Die Treppe drehte drehte sich, wand sich wie eine unendliche Schlange hinauf. Wie oft war er mit seinen Freunden hier gewesen? Die Erinnerung kam ihm vor wie ferner Nebel. Er fiel hin, kletterte weiter. Endlich war er oben, auf der Spitze des Turms. Kalter Wind pfiff um seinen Kopf, als müsse er alle Gedanken hinaus jagen.
Vorsichtig ging er bis an das steinerne Geländer. Seine Aufgabe war erfüllt, sein Leben vorbei. So viele waren wegen ihm gestorben, in einem unsinnigen Kampf voller Leid.
Er beugte sich über das Geländer. Die zertrümmerte Ebene, die einst der Innenhof gewesen war, war übersät mit Leichen. Winzige Gestalten liefen hin und her, trugen sie nach innen. Vielleicht waren Ron und Hermine auch dabei, vielleicht trauerten sie auch drinnen um Arthur und Fred. So viele Tote. Er meinte Tonks rote Haare zu sehen, ein kleiner Farbklex in der grauen Masse.
Wie von selbst kletterte er auf den breiten Steinsims, ließ die Beine baumeln. So musste man sich als Gott fühlen, hilflos über der Masse an winzigen Wesen, winzigen Leichen. Er hatte schon lange aufgehört zu glauben.
Die Ereignisse des Tages jagten durch seinen Kopf. Er hätte einfach tot bleiben können, Dumbledore hatte es ihm angeboten. Aber wer hätte dann Voldemort besiegt? Die letzte lästige Pflicht war von seinen Schultern genommen, nichts stand ihm mehr im Weg. Verabschiedet hatte er sich schon, seine Freunde würden darüber hinwegkommen. Hermine und Ron hatten einander, und Ginny war im Kreis ihrer Familie gut aufgehoben. Ihre Beziehung wäre sowieso irgendwann zerbrochen.
Er rutschte nach vorne. Er müsste nur noch ein wenig sein Gewicht verlagern, dann wäre es vorbei. Die Last der Toten begann ihn zu erdrücken, raubte ihm den Atem.
Wie es wohl wäre zu fallen, und sich nie mehr Sorgen machen zu müssen? Für nichts mehr verantwortlich zu sein? Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.
Grade als er sich abstoßen wollte, wurde die Tür hinter ihm aufgerissen. Überrascht drehte er den Kopf nach hinten. Draco Malfoy stand dort, schwer atmend, als sei er den gesamten Weg gerannt. 》Harry! Warum..? Was...?《 Nur abwesend bekam er mit, dass Malfoy ihn grade beim Vornamen genannt hatte. Schweigend starrte er den blonden, auf der Kante, zwischen Leben und Tod hin und her schwankend. 》Lass mich. Dir kann es ja egal sein.《, krächtzte er. Sein Mund war trocken wie die Wüste Gobi. Vorsichtig trat Draco einen Schritt vor. 》Es gibt Leute, die um dich trauern werden!《, rief er gegen den Wind. Harry war so nah am Abgrund, ein Windstoß würde ausreichen um ihn in den Tod zu stoßen. Draco machte noch einen Schritt, sein Gesicht war voller Verzweiflung. 》Ich werde dich vermissen. Bitte, tu's nicht.《
Ein einsames Lachen entwich Harrys Lippen. 》Du würdest mich doch doch nie im Leben vermissen. Ich bin dein Feind, schon vergessen?《
》Vielleicht war ich das mal, aber das ist vorbei!《 Ein kleiner Schritt nach vorne. 》Hast du mal überlegt, dass ich nur so gemein zu dir war, um in deiner Nähe sein zu können?《 Noch ein Schritt. 》Ich brauche dich, Harry, bitte, sieh das doch!《 Noch ein Schritt, dann ein weiterer. Er hatte Harry fast erreicht. 》Ich würde es nie ertragen, wenn du jetzt springen würdest.《 Ein letzter Schritt. Er packte Harry am Umhang und zog ihn auf die Plattform, ins sichere. 》Lass mich nicht allein.《 Es war nur ein Flüstern, doch Harry hörte es.
Er lag auf dem Rücken, sein Blick war nach oben gerichtet. Der Himmel war wunderschön, blaugrau, die gleiche Farbe wie Dracos Augen. Draco! Er hatte ihn vom Abgrund weggezogen. 》Warum?《 Draco zog den schmächtigen jungen Mann hoch, so dass er ihm in die Augen sah. 》Du bedeutest mir etwas, Harry. Mehr als du dir vorstellen kannst.《 Seine Augen zogen Harry in den Bann, fesselten ihn an sich. In seiner Kehle stiegen Wörter hoch, Wörter, die er nicht mehr zurückhalten konnte. Er hatte sich so lange danach gesehnt es aussprechen zu können, jetzt tat er es. 》Ich liebe dich, Draco.《, hauchte er. Der Eisprinz lächelte, das Eis schmolz. 》Ich liebe dich auch.《

Drarry OneshotsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt