Prolog

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Die Herrin von Silverlon



Das sechzehnjährige Mädchen saß mit ausdrucksloser Miene und geradem Rücken auf dem Herrscherthron und sah auf die Anwesenden herab. Die Hand ihrer Schwester ruhte auf der Stuhllehne und erinnerte sie wieder einmal daran, dass wenigstens eine Person noch auf ihrer Seite stand. Alle anderen befolgten ihre Befehle nur noch aus Angst.

Nun richtete sie sich an den Schreiber und nickte, um ihm zu verstehen zu geben, dass sie zu sprechen beginnen würde. »Jeder rebellische Aufstand wird ab jetzt unvermittelt niedergeschlagen. Es wird keine Überlebende mehr geben, dafür soll gesorgt werden. Die Rebellen werden ein für alle Mal ausgelöscht, wie es schon lange hätte geschehen sollen«, erklärte die Herrin von Silverlon mit einem entschlossenen Unterton, der keinen Widerspruch duldete. »Jede Zusammenarbeit mit einem Rebellen soll bestraft werden. Mit dem Tod.«

Ihre Schwester, die vor wenigen Sekunden noch aufrecht neben ihr gestanden hatte, sank benommen und ungläubig über diese Grausamkeit in sich zusammen. Die Herrin konnte die Gedanken auffangen und das Bild eines Mannes blitzte vor ihr auf – gekleidet wie ein Rebell.

Es muss sein!, wehrte die Herrin das Schuldbewusstsein ab. Nicht länger kann ich tolerant sein, wo ich doch weiß, was geschehen wird. Es muss um jeden Preis verhindert werden, selbst wenn ich dadurch auch noch die Liebe meiner Schwester verliere.

So weit hatte es kommen müssen, dass sie sogar die Person vor den Kopf stieß, die ihr am meisten bedeutete, nur um ihres Titels, ihrer Macht und ihres Lebens Willen. Wie sie sich doch in dieser kurzen Zeit verändert hatte.

Über das Jahr hinweg hatte sich gezeigt, dass sie nicht stark genug war, um die Herrin von Silverlon zu verkörpern. Letzten Endes hatte auch sie all ihre Vorsätze über den Haufen geworfen und nur an das eigene Wohl gedacht. Unter dem Einfluss von Macht verkommt sogar der stärkste Wille, wird gebrochen oder verdrängt von einer unersättlichen Gier, die niemand zu stoppen vermag außer man selbst.

Ihr Blick glitt über die Menge und blieb an einer zierlichen Gestalt hängen, auf deren Lippen sich ein gewinnendes Lächeln abzeichnete. Oh ja, Kimberly gefiel der Gedanke von Tausenden von Toten, ihr gefiel Zerstörung und das Grauen, das es mit einher brachte. Die Herrscherin durfte nicht zulassen, dass Kimberly den Herrscherthron bestieg. Dieses Mädchen war jetzt schon so böse, wie Serena es erst nach langer Zeit geworden war.

Es gab eine, die würdig war, geschaffen für diesen Titel und mit dem alten königlichen Blut der Ladys von Lennor. Rein gesetzlich wäre Kimberly Serenas Nachfolgerin auf dem Thron, doch das Mädchen war nicht einmal fähig, logische Pläne zu entwerfen. Das einzige Ziel, auf das Kimberly hinarbeitete, war die absolute Zerstörung.

So sei es. Die Suche nach den Rebellen wird mich zu ihr führen. »Findet ein Mädchen namens Winter. Vor dem Blutmond soll sie zu mir gebracht werden, sonst wird dieses Land in tiefste Dunkelheit fallen«, beschwor sie die Anwesenden und sah jedem direkt in die Augen, um die Wichtigkeit ihrer Worte noch zu unterstreichen.

Unruhe breitete sich im Saal aus, doch eine kleine Bewegung reichte aus, um alle zum Schweigen zu bringen. Ihre Macht war unermesslich und nicht mit Gold zu kaufen. Niemand wusste, ob das eine Drohung war oder eine Weissagung, doch die Dringlichkeit, mit der sie gesprochen hatte, wies alle daraufhin, wie ernst die Lage war.

Gut so. Die Zeit ist gekommen, zu beenden, was ich vor Jahren begonnen habe. Solange noch ein Funken Mitleid in mir ist, soll ich eine würdige Nachfolgerin für mich wählen. Winters Macht wird alles übersteigen, was jemals gesehen wurde.

Es kostete die Herrscherin dennoch viel Mühe, nicht doch noch den Befehl zu geben, Winter zu ermorden. Wie konnte sie zulassen, dass eine Person aus der Menschenstadt ihren Platz einnahm und auch noch fähig war, sie zu überragen? Das stimmte nicht mit ihrer Gier, die seit der Thronbesteigung in ihr lauerte, überein.

Schwester, tu es nicht, bat Heather neben ihr und ihre Hand verkrampfte sich bei dem Gedanken an ihren Geliebten um die Lehne. Tu mir das nicht an. Immer habe ich zu dir gehalten, aber das kann ich nicht verantworten.

Die Herrin von Silverlon drängte ihre heftiger werdenden Gefühle zurück. Sie konnte ihren Befehl nicht zurücknehmen und das wollte sie auch gar nicht. Ein Teil von ihr war schon lange in der Finsternis ihres Verstandes verschwunden und hatte nur Grausamkeit zurückgelassen. Deshalb konnte sie Kimberly so gut durchschauen. Im Grunde war sie aus dem selben Holz geschnitzt.

Die Rebellen untergraben meine Macht, erklärte sie sich selbst, um sich zu beruhigen. Sie sind eine Gefahr für alle Menschen hier. Sie müssen verschwinden, bevor noch größerer Schaden entsteht. Außerdem dürften sie eigentlich gar nicht existieren.

»Nein, Heather«, meinte Serena laut und schüttelte den Kopf.

Ergeben ließ ihre Schwester den Kopf sinken, doch in ihren Augen glomm das Feuer von früheren Zeiten, als sie noch aufbegehrt hatte, wenn ihr etwas nicht passte und sie noch nicht alle Befehle befolgt hatte. »Dann bist du der Feind der Rebellen, sowie du ab jetzt meiner bist«, hauchte sie und drehte sich um.

Heathers Kleid schmiegte sich an ihren Körper, als der Stoff in der Luft wirbelte und dann hinter ihr her wehte, während sie schnellen Schrittes, aber entschlossen und ohne wirklich zu rennen, den Saal verließ.

Tränen stiegen der Herrin in die Augen, doch sofort zwinkerte sie sie fort. Die Herrin von Silverlon durfte auf keinen Fall schwach wirken. Serena musste noch durchhalten, bis Winter gefunden war. Zudem hatte sie seit Jahren nicht mehr geweint und würde auch Heather nicht die Genugtuung verschaffen.

Es ist noch nicht vorbei, erkannte Serena. Es hat gerade erst begonnen.

In diesem Moment fühlte sie, wie eine Welle der Magie über das Land hinwegbrauste und hob den Kopf etwas an. Das leichte Glühen lag immer noch über den Möbeln und dem Boden, wo die Energie es berührt hatte.

Es ist so weit.

WINTER'S TALE -   The Lords and Ladies *pausiert*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt