Wir verließen das Beratungszelt und überquerten die Lichtung. In der Mitte mussten wir einmal einen Sprung über den Bach machen. Alex lief genau auf das Krankenzelt zu. Verwirrt ließ ich mich mitziehen "Sie sind da?" Er lachte leise "Nein, warte es ab". Jetzt war meine Neugierde geweckt. Auch wenn ich natürlich nervöser war, als ich jemals zugeben würde. Ich hatte meine Eltern das letzte mal an meinem Geburtstag gesehen. Und Jodie, als sie mich in den sauerstoffarmen Gängen der Bärenhöhle abstechen wollte. Wir hatten viel zu klären. Jedoch konzentrierte ich mich jetzt erstmal wieder auf den Weg und stellte fest, das Alex nicht in das Krankenzelt ging, sondern außen herum. Und hinter dem Krankenzelt standt tatsächlich noch eins, dass man von der Lichtung aus gar nicht sah. Es war sogar fast größer als das Krankenzelt und hatte viele Eingänge. Zwei Wachen saßen vor dem Zelt auf Campingstühlen. Als wir kamen, blickten sie überrascht auf, doch kaum erkannten sie Alex, nickten sie ihm zu und wandten sich wieder ihrem leisen Gespräch zu. "Was ist das hier?" fragte ich und konnte meine Blicke nicht von dem großen, tarnfarbenen Zelt wenden. Alex fuhr sich durch die Haaren "Hier schlafen die Leute die... unter Beobachtung stehen. Zu wem willst du zuerst, deinen Eltern oder Jodie?". "Jodie ist hier?!" fragte ich entrüstet "Sie hat doch nichts getan!". Alex zog beide Augenbrauen hoch "Nichts getan?! Falls du dich nicht erinnerst: Sie wollte dich töten!". "Aber da kann sie doch nichts für!" beschwerte ich mich "Sie hat diese - wie hieß es noch gleich? - ach ja, Polyphobie. Sie kann nichts dafür!" Beschwichtigend hob Alex die Hände "Sie ist trotzdem eine Gefahr-". Ich unterbrach ihn mit einem wütenden Schnauben "Eine Gefahr!? Jodie? Das ich nicht lache. Versprich mir, dass du mit Dennis redest. Er soll sie ins normale Frauenzelt lassen. Ich werde mich persönlich um sie kümmern!". "Lucy, du hast schon so genug zu tun! Ich werde-" versuchte er mich umzustimmen, doch ich fiel ihm wieder ins Wort. "Versprich es, Alex" sagte ich leise und setzte meinen besten Hundeblick auf. Er knurrte und rieb sich dich Schläfen "Du bist so stur! Gut, ich rede mit Dennis. Versprochen". "Aw, danke danke danke" sagte ich jetzt mit einem überdimensionalen Grinsen und drückte ihm einen kurzen Kuss auf die Lippen. Er brummte etwas unverständliches. Doch als ich mich von ihm lösen wollte, drückte er mich an sich und vertiefte den Kuss. Ein paar Sekunden spielte ich mit, dann nuschelte ich gegen seine Lippen "Alex, meine Eltern...". Mit einem seufzen entließ er mich aus seinen Armen "Fortsetzung folgt". "Ich bitte darum" lächelte ich "Aber jetzt stell ich meinen Eltern erstmal meinen Freund vor".

"Wir müssen da rein" sagte Alex und deutete auf den dritten Zelteingang. Etwas nervös drehte ich mich zu ihm um "Du, Alex... Ich... Also, kann ich erstmal alleine mit meinen Eltern reden? Weil, wir haben uns so lange nicht gesehen und jetzt gleich mit einem Jungen aufzukreuzen... ich weiß nicht. Macht es dir etwas aus, wenn-". Er unterbrach mich, indem er mir einen kurzen Kuss aufdrücken. Dann schaute er mir tief in die Augen "Natürlich, Lucy. Etwas anderes habe ich gar nicht erwartet. Ich warte hier auf dich, okay?". Ich zog ihn in eine Umarmung "Danke. Du bist der Beste". Er schien mir meine Angst zu bemerken und murmelte in mein Haar "Du schaffst das". Dann ließ er mich los, schenkte mir noch ein aufmunterndes lächeln, wandte sich ab und lief auf die Wachen auf den Campingstühlen zu. Einen Moment zog ich in Betracht, einfach wieder zu gehen. Aber dann rief ich mich selbst zur Ordnung 'Du nimmst es mit fünf Regierungswachen auf, aber bei deinen eigenen Eltern kneifst du? Reiß dich zusammen, Lu!'. Also machte ich zögerlich ein paar Schritte, bis ich direkt vor dem dritten Zelteingang stand. Jetzt trennte mich also nur noch eine dünne Zeltwand von meinen Eltern. Die, welche die Rebellen ursprünglich gegen mich eintauschen wollten. Vielleicht können sie ja bald wieder nach Hause. Spätestes in einem Monat, wenn ich zur Operation X gehe. Wie es James, meinen Bruder, wohl geht? Was hat er in der Zwischenzeit übernommen. Wieso war er eigentlich nicht zu meiner damaligen 'Hinrichtung' informiert worden? Immerhin ist er ja Familienmitglied. Seltsam. Hoffentlich geht es ihm gut. Ich vermisse ihn ein bisschen. So, wie man eben einen großen Bruder vermissen kann. Okay, ich schweife wieder ab. Aber ich habe mehr Angst, als ich zugeben würde, den dummen Reißverschluss des Zelteinganges zu öffnen. Was, wenn meine Eltern total unterernährt ist und es ihenen schlecht geht? Wenn sie meine Entscheidung, den Rebellen zu helfen und etwas zu verändern, nicht verstehen? Wenn sie es nicht tolerieren? Was, wenn sie mich gar nicht erkennen? Oder aus Wut, dass ich mich erst nach so langer Zeit um sie sorge, mich einfach ignorieren? Es gibt keine schlimmere Strafe als komplette Gleichgültigkeit von den Menschen, die man liebt. Klar, bis jetzt hatte ich ihre Unterstützung auch nicht, aber sie haben mich auch nicht abgelehnt. Sie hatten auch noch nicht die Chance dazu. Aber jetzt, jetzt werde ich ihnen die Chance geben. Ich weiß, dass das, was in diesem Zelt passieren wird, meine ganze Zukunft verändern kann. Oder verändern wird. Aber da sich inzwischen täglich meine Zukunft um hundertachzig Grad ändert, habe ich eigendlich nichts zu befürchten. Denn ich bin stark. Also straffte ich die Schultern und zog den Reißverschluss mit einem ruck auf.

"Mama? Papa?" fragte ich schüchtern und trat in das Zelt. Es dauerte nicht eine Sekunde, da haute es mich fast von den Füßen, weil Mama mich in eine stürmische Umarmug zu. "Lucy. Es geht dir gut. Wir hatten solche Angst" flüsterte sie in mein Haar und ich hörte die Tränen in ihre Stimme. "Nicht weinen, Mama. Alles gut. Mir gehts gut" sagte ich, doch mir standen selber Tränen in den Augen. Ich hatte sie so unendlich vermisst. "Lass dich angucken" schniefte Mama und trat einen Schritt zurück, um mich mustern zu können. Doch da zog mich schon Papa in eine bärenhafte Unarmug und hob ich ein Stück hoch. "Mein Mädchen" sagte er nur. "Papa" flüsterte ich erstickt und vergrub mein Gesicht in seiner Schulter, damit er meine Tränen nicht bemerkte. Natürlich bemerkte er sie trotzdem. Nach einigen Sekunden ließ er mich runter. "Ich bin so froh" sagte ich leise, wischte mir verstohlen über die Augen und hatte zum ersten mal die Möglichkeit, die beiden zu mustern. Sie sahen zum Glück aus wie immer. Mama war eine hochgewachsene, weißblonde Frau anfang 40. Ihre grauen Augen in ihrem schmalen Gesicht musterten mich besorgt. Sie war hübsch mit ihren lagen Beinen, breiter Hüfte, straffen Bauch und vollen Busen. Papa nannte sie immer Model. Nicht selten hatte ich mir gewünscht, mehr von ihr zu haben. Doch abgesehen von dem schmalen Gesicht, den hohen Wangenknochen, dem schmalen Körperbau und den knochigen Finger hatte ich äußerlich nicht sonderlich viel von ihr geerbt. Da kam ich eher nach Papa. Dieser war zwar ein paar Zentimeter großer als Mama, aber sonst eher ein breiterer Typ. Meine dunkelbraunen Wellen und grünen Augen habe ich von ihm. James sagte immer, wenn er in meine Augen schaut, schaut er in eine 40 jahre jüngere Version von Papas Augen. Auch meine schmale Lippe, die Nase und die Millionen Sommersprossen habe ich von ihm. Wenn man Papa anguckt, findet man nicht gleich, dass er attraktiv ist, wie bei Mama. Aber er hat seine eigenen Charakterzüge, die ihn schön machen. Das warme lächeln und die Bärenumarmungen zum Beispiel. "Und wir erst, Liebling" riss Mama mich aus meinen Gedanken "Wir hatten so Sorge... als dann auch noch das Rebellenlager angegriffen wurde...". "Seit ihr böse?" fragte ich leise und musterte den Boden "Weil ich den Rebellen helfe?". Papa seufzte "Ändern können wir deine Meinug sowieso nicht... und vielleicht ist es ganz gut, wenn mal wieder neuer Wind in der Regierung aufkommt. Diese Codes sind keine Dauerlösung. Viel zu viele Menschen leiden darunter". Überrascht sah ich auf "Heißt das, ihr findet es gut? Ihr unterstützt mich?". "Wir werden dich immer unterstützen. Ob das, was die Rebellen tun, so gut ist, wird sich zeigen" antworte jetzt Mama und lächelte mich dann matt an "Hauptsache du bist damit zufrieden. Wenn du davon überzeugt bist, wird es schon gut sein. Wichtig ist nur, dass du auf dich aufpasst". "Danke" sagte ich ehrlich und fühlte mich unendlich erleichtert. Meine Eltern haben meine Entscheidung akzeptiert. Sie unterstützen mich. Es geht ihnen gut. "Ich... o gott, es ist so viel passiert" stammelte ich und wusste nicht, wo ich anfangen soll. Mama setzte sich auf eines der beiden Feldbetten im kleinen Raum und klopfte neben sich "Komm. Wir haben alle viel zu berichten". Papa setzte sich auf das Bett gegenüber und lächelte mich an. Glücklich setzte ich mich neben Mama und lehnte mich an ihre Schulter. Sie legte aufmunternd einen Arm im mich. Und dann begann ich zu erzählen.

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