Kapitel 1

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Einige Jahre später

"Grace! Man, beeil dich! Wir sind viel zu spät!", drängelt Renée von der Haustüre aus.
"Ich weiß", antworte ich, reibe mir noch halb verschlafen die Augen und greife nach meiner Tasche.
Lautstark poltere ich die Treppe runter und stehe unten angekommen Renée gegenüber.
"Fertig?", fragt sie und betrachtet mich.
Ich nicke und schon zieht sie mich auf die Straße.
"Wie viel Uhr?", frage ich sie, als Renée ganz gemütlich vor sich hin schlendert.
Träge fuchtelt sie in der Tasche rum und holt ihr neues Handy raus.
"Oh nein! Die zweite Stunde hat schon angefangen!", sagt sie und schaut mich an.
"Das heißt, dass wir mal wieder dem Hausmeister helfen dürfen, oder?"
Sie nickt.
"Morgen nehmen wir das Auto", versichere ich ihr.
"Morgen verschlafen wir nicht beide!", sagt Renée und beschleunigt ihre Schritte.

Der kleine hässliche Klotz, von Lehrern auch ganz stolz "Schule der Reichen" genannt, prangt uns entgegen als wir um die Ecke biegen und den Parkplatz überqueren.
Renée reißt die große Glastür mit Schwung auf, dann folge ich ihr durch den leeren Gang, welcher von tristen grauen Wänden geschmückt wird.
Wir bleiben nur kurz an den Schließfächern stehen, um die Bücher zu holen, dann schlagen wir den Weg zu unserem Klassenzimmer ein.

Zögerlich klopfe ich, weiß tief in mir, dass mich mit dem folgenden "Herein" auch der nächste Hausmeisterdienst erwartet. Denn bekanntlich bestraft unser Mathelehrer alle Zuspätkommer damit.
"Na, wen haben wir denn da? Ich würde sagen, eine Woche mit dem Hausmeister, meine Damen."
Renée und ich murmeln ein "Entschuldigung.", während der Lehrer uns grimmig anschauend die Mathearbeiten in die Hand drückt.
Wir laufen so leise wie möglich zu unseren Plätzen in der zweiten Reihe, aber natürlich entgeht mir das Getuschel der anderen nicht. Wie denn auch, wenn alle plötzlich ihre Köpfe zusammenstecken und eine Hand vor den Mund halten, damit auch ja nicht wir oder der Lehrer etwas verstehen?

Der Stuhl knarzt als ich ihn zurückschiebe, um mich neben Lukas zu setzen, welcher mich mit einem aufrichtigen Lächeln begrüßt. "Hi."
Ich packe meine Bücher aus, während Renée neben mir die Mathearbeit umdreht.
"Oh nein!", sagt sie und schaut geschockt auf die Note. Mein Blick fliegt auf die große rote Vier, dann zwinge ich mich zu einem motivierenden Lächeln.
"Wir lernen nächstes Mal wieder zusammen", verspreche ich ihr und drehe meine eigene Arbeit um. 1-2.
"Hattest du einen schlechten Tag?", fragt Renée, versucht ein Lachen zu unterdrücken.
"Ja, ansch- "
"Grace und Renée! Wenn Sie sich sonst schon nicht beteiligen und oft zu spät kommen, dann halten Sie doch wenigstens mal den Mund", sagt unser Lehrer und widmet sich wieder seinen Formeln.
Ich spüre Lukas Blick auf mir, doch ignoriere ihn. Es reicht mir schon, wenn sich die Blicke der anderen Mitschüler in meinen Rücken bohren.

Als gegen vierzehn Uhr endlich mal die Klingel ertönt, stürmen alle anderen freudig aus dem Chemieraum, doch Renée und ich lassen uns Zeit.
Auf uns wartet nur der alte Hausmeister, welcher mit gebücktem Rücken noch versucht, die Blätter auf dem Boden wegzufegen und in den Pausen Süßigkeiten verkauft.

Kaum mache ich einen Schritt aus dem Fachraum, strahlt Lukas mich voller Begeisterung an, welche ich leider nicht teilen kann.
Ich gebe Renée ein knappes Nicken und zeige ihr damit, dass sie schon mal gehen soll.

"Ist etwas?", frage ich Lukas, als er neben mir her zu meinem Schließfach läuft.
"Wann hast du mal wieder Zeit, damit wir was zusammen machen können?"
Ich stopfe die Bücher in das Schließfach und mache die Tür zu. Es fällt mir schwer nein zu sagen, da meine Eltern immer wieder darauf beharren, doch da kommt mir meine Unpünktlichkeit auch einmal gelegen.
"Diese Woche nicht." Ich verdrehe die Augen. "Hausmeister."
Er senkt seinen Blick und kratzt sich mit einer Hand im Nacken.
"Tut mir leid", füge ich noch dazu, da er so enttäuscht und planlos wirkt.
"Grace, du weißt, dass wir beide..."
"Ich weiß", unterbreche ich ihn. Ich will und kann es nicht mehr hören. Es ist ein Teil meiner Zukunft, der sich einfach nicht verbannen lässt, egal, wie sehr ich es mir wünsche.

Mir wird fast täglich eingetrichtert, dass ich mehr Zeit mit Lukas verbringen soll, da wir beide in ein paar Jahren verheiratet sein werden und am besten noch gleich ein paar Kinder haben. So zumindest ist das die Wunschvorstellung seiner und meiner Eltern. Dass sich aus Freundschaft seit Kindheitstagen aber nicht so schnell Liebe machen lässt, scheint für sie unbegreiflich.
Mit Lukas habe ich echt noch Glück. Es hätte mich viel schlimmer treffen können.

Lukas mag mich, das weiß ich. Vielleicht so sehr, wie ich noch nicht bereit dafür bin. Ich mag ihn ja auch, doch das nur auf reiner freundschaftlicher Ebene.
"Na schön", sagt er und stützt einen Arm rechts von mir am Schließfach ab. Ich ziehe scharf die Luft ein. Das kommt unerwartet. "Bei einem Date wirst du nicht nein sagen, oder?"
O, das kommt unerwartet.
"Ein Date? Findest du das nicht ein bisschen..."
Er legt mir einen Finger auf die Lippen, wodurch sich irgendwo tief in mir ein Feuer entfacht. Eigentlich möchte ich es nicht wahrhaben, doch was zwischen mir und ihm ist, geht ein Stück über Freundschaft hinaus.
"Hast du Lust mit mir am Freitagabend auszugehen?", fragt er ernst und schaut mir tief in die Augen.
Ich drehe mein Gesicht weg von ihm, weil ich nicht weiß, was ich sagen soll, doch er legt einen Finger unter mein Kinn und dreht es zu sich, sodass ich ihn anschauen muss.

"Bitte, Grace."
Ich atme einmal tief ein. Was habe ich schon zu verlieren abgesehen von ein paar Stunden Freizeit?
"Na gut", gebe ich nach.
Ein Date heißt ja nicht gleich, dass wir ein Paar sind.
Lukas Lächeln erreicht seine Augen, was mich selbst schmunzeln lässt. Ich habe ihn schon lange nicht mehr so glücklich gesehen.
"Gut. Ich werde dich dann abholen. Bis morgen, Grace", sagt er und beugt sich vor.
Ich schlüpfe unter seinem Arm durch, bevor ich noch zulasse, dass er mich küsst und laufe weg.
Ich höre Lukas leise lachen.
"Viel Spaß beim Hausmeister", ruft er mir hinterher.
"Bis morgen", sage ich und laufe zum Hausmeister. Das wäre doch zu viel gewesen.

Von weitem sehe ich Renée schon wild mir ihren Händen gestikulieren, die Mundwinkel nicht sonderlich begeistert nach unten gezogen.
"Ach, hallo Grace", sagt unser Hausmeister, als er mich sieht.
"Hallo", sage ich und setze ein Lächeln auf, eher gezwungen fröhlich als alles andere.
"Habe gerade erfahren, dass ihr beide mir mal wieder helft", sagt der alte Mann, rückt sich mit seinem Zeigefinger die Brille zurecht. "Ich habe sogar eine besondere Aufgabe für euch."
"Und das wäre?", frage ich neugierig und träume schon davon, Blumen zu gießen, anstatt Müll einzusammeln.
"Da ich ja an zwei Schulen Hausmeister bin, dürft ihr mal an der anderen helfen. Das ist die Schule drei Straßen von hier weg."

Ich schlucke und werfe Renée einen Blick zu. Ich habe mich sicherlich verhört, rede ich mir ein, unterdrücke das mulmige Gefühl in meinem Bauch.
"Die Schule der Normalen?"

Die zehnte GabeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt