33. Rückschau (allmählich Studentenfutter)

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Die Wohnungstür öffnete sich betont leise. Olliver sah auf die Zeitanzeige der Mikrowelle.

03:47 Uhr

Er wusste nicht mehr genau, seit wann er auf diesem Stuhl saß wie angenagelt und sich vor lauter rasender Gedanken nicht bewegen konnte. Es war nicht wichtig, auch wenn ihm jeder Knochen wehtat und er schon seit einer ganzen Weile fror.

Als sie sich endlich in die Wohnung schob, spürte er zuerst Erleichterung. Sie war nach Hause gekommen, wenigstens das... Statt das Licht einzuschalten, zog Bianca sich die Schuhe im Dunkeln aus. Sie ging also davon aus, dass er bereits schlief. Das tat er normalerweise auch. Doch dies war keine Nacht wie jede andere.

Ein Teil von ihm wünschte sich, er wäre ins Bett gegangen; wünschte sich, er hätte nicht die Augen geöffnet. Doch nun, da er es getan hatte, gab es kein zurück.

Das Küchenlicht sprang an und stach ihn in die müden Augen. Biene erstarrte im Türbogen und hielt vor Schreck die Luft an.

Er sah ihr ins Gesicht, wie er es sich vorgenommen hatte, und erforschte jede Regung; versuchte, jeden darüber huschenden Gedanken zu erfassen, bevor sie sich wieder unter Kontrolle hatte. Das entging ihr zwar nicht. Doch als sie wieder fortfuhr zu atmen, hatte er bereits genug gesehen.

Nun nahm Bianca die Flasche Wein wahr, die nehmen ihm auf dem Tisch stand, sie war halb geleert. Vielleicht würde sie nicht mit ihm reden wollen, wenn er getrunken hatte. Doch das letzte Glas war Stunden her und er hatte es auch so nicht übertrieben. Nein, sein Kopf war klar. Das wusste er, weil ihm speiübel war vor Angst.

„Wir können die Lügen direkt überspringen. Ich weiß, dass du nicht im Atelier warst, also versuch' es gar nicht erst."

Bianca atmete geräuschvoll aus und nickte.

„Und es ist mir auch egal, ob du müde bist. Dann mach dir einen Kaffee oder Tee oder was auch immer. Aber dann setzt du dich da hin und erzählst mir alles."

Wahrscheinlich war sie gar nicht müde, jetzt nicht mehr. Trotzdem kochte sie Wasser für einen Kaffee, denn das gab ihr Zeit, sich zu sammeln. Er wusste, dass sie immer erst ihre Gedanken sammeln musste, weil sie sonst vor lauter Emotionen vielleicht nur Kauderwelsch hervorbrachte. Und auch wenn er wütend war, das wollte er ihr ersparen. Außerdem musste er es hören, aus ihrem Mund...

Und sie erzählte es ihm. Wie oft sie Olliver bereits angelogen hatte, indem sie ihm vormachte, im Atelier oder in der Uni zu sein. Stattdessen sei sie bei Noah gewesen. Aber nicht, um Olliver zu hintergehen, sondern um Noah zu helfen. Er habe Depressionen, schon lange, aber das sei ihr erst vor kurzem klar geworden. Und er brauche ihre Hilfe, weil er sonst ganz alleine sei und aus seinem Loch nicht allein herausfände. Weil er sich sonst umbringen würde, jedenfalls habe er ihr das angedroht.

Sie wolle nicht Schuld sein an seinem Zustand. Oder seinem Tod... An dieser Stelle fing sie an zu weinen und Olliver wollte sie gerne trösten. Aber er war zu wütend auf sie und hielt an seinem Recht auf Wut fest. Zwischen all ihren Worten las er in dieser Nacht nur eines, nämlich dass Noah ihr noch immer wichtig war. Wichtig genug, um ihn zu belügen. Wichtig genug, um ihm weh zu tun. Wichtiger als das, was sie beide aneinander hatten...

Bianca erzählte noch mehr, versuchte ihm, ihre Beweggründe zu erklären; sie bat ihn um Verzeihung und weinte nur noch mehr.

Und Olliver... fühlte sich verraten. Was er alles für sie getan hatte – er hatte sich ihr vollkommen geöffnet; ihr vertraut. Sie in sein Leben eingeladen – in sein Herz! Alles verraten. Alles kaputt.

„Das Kranke daran ist, dass ich es gar nicht erfahren hätte, wenn Henny nicht endlich mal zu dir ins Atelier gefahren wäre. Weil du sie immer wieder genervt hast, wollte sie sich heute deine Bilder angucken, aber du warst nicht da. Und als sie hier anrief und wissen wollte, ob du zu Hause bist..." Ollivers Lippen zuckten verdächtig und er brach ab, weil er plötzlich befürchten musste, ebenfalls in Tränen auszubrechen.

„Es tut mir so leid, Olli! Bitte glaub' mir, da ist nichts mehr zwischen Noah und mir. Ich wollte wirklich nur helfen..."

Er nickte. „Kannst du für eine Weile bei deinen Eltern unterkommen?"


„Wie sie mich in diesem Moment angesehen hat... so als hätte ich sie verraten. Das hat mich nur noch wütender gemacht." Gott, war ich wütend. „Ich... hätte in dieser Nacht am besten gar nichts sagen sollen. Ich konnte einfach nicht klar denken." Diese Nacht war der Anfang vom Ende.

Ich kann dein Bedauern nachempfinden.

„Natürlich bedaure ich es! Denn sie hat ja die Wahrheit gesagt... irgendwie" Je länger ich Zeit hatte, darüber nachzudenken, desto klarer wurde mir, dass sie diesmal nicht gelogen hatte. Denn so war sie einfach. Wenn Biene einen Grund – wenn auch einen komplett verrückten Grund – gehabt haben mag, um zu lügen, dann weil sie sich anders wahrscheinlich nicht zu helfen wusste.

„Hätte sie mir doch nur früher erzählt, was da abging."

Was hätte das bewirkt?

Tja...was? Vielleicht hätte ich die Manipulation stoppen können. Denn von Anfang an war es nichts anderes gewesen als Manipulation, mit der Noah Biene an sich zu ketten versucht hatte.

„Auch wenn es vielleicht unlogisch klingt - sie ist erpresst worden! In ihrem großen, verunsicherten Herzen war kein Platz für die Vorstellung, für sein Unglück – oder sogar seinen Selbstmord – die Verantwortung zu tragen. So sehe ich das inzwischen."

Ich habe versucht, ihr das klar zu machen – sie war doch nicht Schuld an seinen Depressionen! Es war nicht ihre Aufgabe, bei ihm zu bleiben, damit er sich nichts antut. Und es war erst Recht nicht ihre Aufgabe, ihn zu heilen!

Das ist korrekt. Entdeckst du Parallelen zu dir?

„...so wie es nicht meine Aufgabe war, Biene zu heilen...?" Irma bekommt mich scheinbar immer dahin, wo sie mich haben will.

Was siehst du noch?

Immer dasselbe Spiel. Trotzdem, es wird nicht langweilig mit ihr.

„Es war allein seine Aufgabe, den Hintern hoch zu kriegen! Was auch immer sein Problem war, er hatte es mit sich selbst und nicht mit Biene!"

Wir können nicht die Verantwortung für unser Leben auf andere Menschen abwälzen. Sie ist zu groß für den Anderen. Und wir begeben uns damit in den Stillstand. Wir kommen von unserem Seelenweg ab.

Meine Gedanken rasen.

„Ok, sehe ich genauso... nur gibt es sicher Situationen, wo uns die Verantwortung für uns selbst zu viel ist. Oder wir nicht mehr weiter wissen. Wie dieser Noah..."

Sich Hilfe zu suchen, zeugt von einem liebevollem Verantwortungsbewusstsein gegenüber uns selbst. Wenn dieser Schritt hilft, uns selbst besser zu verstehen und zu heilen, dann entspricht es unserem Seelenweg.

„Der Brief... sie hat den Kontakt zu ihm abgebrochen..."

Sie hat die Verantwortung für Noahs Leben zurück in seine Hände gelegt und sich zurückgezogen. Sie nimmt sich selbst nun wichtig genug, auf ihr eigenes Wohlergehen zu achten und es nicht geringer zu werten als das eines anderen Menschens.

Dabei hatte sie viel Hilfe.

„...meine... Hilfe!"

Endlich ernte ich mal wieder ein Lächeln. Wie gut das tut. Und wie wundervoll zu erkennen, dass ich Biene auf ihrem Seelenweg ein Begleiter gewesen bin. Unnötig zu erwähnen, dass plötzlich die Sehnsucht in mir hochkocht. Und ich mache mir immer noch Sorgen.

SeelenwegeWhere stories live. Discover now