1. Die erste eigene Entscheidung

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1. Die erste eigene Entscheidung


Nervös wippte sie den Holzstift zwischen ihren Fingern hin und her, während sie angestrengt auf das Papier vor sich starrte. 

Die Fragen waren unmissverständlich und doch zerbrach sie sich nun schon seit fast fünf Minuten den Kopf über Punkt zwei. "Sind sie bereit noch weitere fünf Jahre zur Schule zu gehen und sich mit vollem Einsatz weiterzubilden?" Wollte sie mehr lernen? Sie würde schon noch so einiges interessieren und ein paar Fragen hätte sie auch noch, aber der Gedanke auf einem Stuhl sitzenbleiben zu müssen, machte sie schon jetzt schon ganz aufgekratzt. 

Nach weiteren zwanzig Minuten, war sie sich sicher Schweißflecken und wahrscheinlich jetzt ihr Leben ruiniert zu haben. Mit angestrengtem Gesichtsausdruck gab sie der streng aussehenden Ken das mitgenommene Testpapier wieder zurück. Nachdem Test durften alle wieder nach Hause. Betont langsam machte sie sich auf den Weg zum Zug. Die bunte Gruppe von Jugendlichen löste sich auf ihrer Fahrt immer mehr auf, bis sie nur noch von Amite umgeben war. Der Zug brachte sie durch die Stadt, bis zum Zaun und weiter bis zur Endstation, bei dem großen Lagerhaus, um das sich verstreut die Häuser der Amite verteilten. Während der Fahrt hing Emilia weiter ihren Gedanken nach und versuchte das aufgeregte Getuschel und das nervtötende Lachen und Kichern der anderen Amite auszublenden. Die Häuser der Amite waren Holzhütten, die von den Feldern, Gewächshäusern und vereinzelt auch kleineren Wäldern umgeben waren. Sie waren schlicht und einfach, das meiste war aus Holz und Stein. Es gab Sachen, die sie mit Sicherheit vermissen würde, wie den Duft der Felder und der Blumen, und die Schönheit der Natur, aber ihre lauernde Angst lag wie ein riesiger dunkler Schatten über allem und streckte in letzter Zeit immer häufiger seine Klauen nach ihr aus. 

Nachdem sie ausgestiegen war, rannte sie so schnell sie nur konnte zwischen den Feldern und Häusern über den einfachen Kiesweg nach Hause. Schnaufend kam sie an ihrem leuchtend gelb angestrichenem Haus an, riss die Tür auf und knallte sie schwungvoll hinter sich zu. Auch wenn sie eigentlich immer in Sicherheit war, konnte sie ihre Angst nicht einfach abschütteln. Ihr Vater, Max, und ihre Mutter, Loren, mussten noch auf den Feldern sein, deshalb erwiderte nur das leere Haus ihre schweren Atemzüge. Langsam sackte die Panik, mit ihren aufgestellten Nackenhaaren, wieder zurück und sie suchte nach anderen Gedanken. Sie dachte daran, dass sie vielleicht bald ihr Zuhause verlassen würde. Traurig, wie sehr diese Aussicht sie schon fast freute. Sie seufzte und dachte an die alten Tratschtanten, die sich im Lagerhaus immer -hinter hervor gehaltener Hand- die Mäuler zerrissen. Und wie gern sie über ihre verstorben leibliche Mutter lästerten: Wie die Geier hatten sie ihr schönes Andenken zerfetzt. Es gab nämlich eine zeitliche Grenze der Moral: Nach ein paar Jahren war der frühe Tod gar nicht mehr so tragisch und unaussprechlich. Und dann konnte sich wieder den eigenen Unmut von der Seele reden. Die Tratschtanten machten sich leichter, indem sie über ihre schöne Mutter schimpfte, sie sei eine Hure gewesen, die nur bekommen hatte, was sie verdiente. Sie hatten zwar auch ein Herz für das "arme, zurückgebliebene Bastardkind", wie sie Emilia immer nannten. Allerdings hatte das Mitleid sich auch bald in ein Mitleid mit ihren braven Pflegeeltern umgewandelt, die ja immerhin dieses fremde Bastardkind ernähren und durch die kalten Tage bringen mussten. Wut rollte wie eine Hand Steine durch ihren Magen, doch sie zwang sich ruhig zu bleiben. Irgendwann hatte sie nämlich gelernt, dass nichts schlechtes daran war, die Ecke der Tratschtanten zu meiden und den Gedanken an alles darum herum. Sie wussten und glaubten auch nur das, was man ihnen gelernt und wozu man sie erzogen hatte. Die Altruan glaubten fest daran, dass eine Familie unbedingt zwei Elternteilen (natürlich, aus der gleichen Fraktion) benötigte. Und bevor Loren und Max sie aufgenommen hatten, war sie das Kind einer alleinstehenden Altruan und eines mysteriösen Mannes von den Ferox, über den niemand etwas wusste, außer dass er schon lange gestorben war, noch vor ihrer Mutter. Deshalb hatte sie auch lange geglaubt auf diese Welt gekommen zu sein, um als Thema für die alten Tratschweiber herzuhalten. Und die jungen Mädchen waren natürlich kein Stück besser, sie hatten es später den Alten dann eifrig nachgemacht. Sie hatten Emilia dann auch außerhalb der Lagerhalle nicht mehr die Illusion gelassen, dass das hier ihr Zuhause war. Die allgemeine Abneigung ihr gegenüber war der ausschlaggebende Grund, weshalb sie die hart arbeitenden Altruan ,ohne einen Blick zurück, verlassen wollte. Sie hatte sich hier nie wirklich zugehörig gefühlt. 

Die letzte Stadt - Eric & MilaNơi câu chuyện tồn tại. Hãy khám phá bây giờ