Die Gilde der verschwundenen Bücher

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Rektor Jerrik betrat sein Büro, einen Stapel mit Vorschlägen für die bevorstehenden Winterprüfungen, unter dem Arm. Er fragte sich, welche absurden Ideen er dieses Mal ablehnen musste. Einige Lehrer hatten eine seltsame Vorstellung dessen, was ihre Novizen geprüft werden sollten.

Seine Lichtkugel vorausdirigierend schritt Jerrik zu seinem Schreibtisch. Die Luft in seinem Büro war muffig. Muffig und kalt. Er manipulierte seine Lichtkugel so, dass sie zugleich eine angenehme Wärme verströmte. Dann streckte er seinen Willen nach dem Fenster aus und öffnete es.

Ein eisiger Windstoß fuhr in den Raum und ließ die Unterlagen unter seinem Arm flattern. Rasch stellte Jerrik den Papierstapel auf seinem Schreibtisch ab und beschwerte ihn mit Lord Varrins Handbuch des Feuermachens, das zusammen mit seinen beiden anderen Lieblingslektüren stets auf seinem Schreibtisch lag. Jerrik liebte es, darin zu lesen, wenn er eine Pause von dem stressigen Alltag des Universitätsdirektors der Magiergilde brauchte. Und wenn er an die Genehmigung der Prüfungsaufgaben dachte, würde er an diesem Abend gleich mehrere solcher Pausen brauchen.

Sich in seinem Schreibtischstuhl niederlassend, nahm er das erste Papierbündel aus dem Stapel. Lord Elbens Vorschläge für die Drittjahresnovizen. Elben war ein strenger Lehrer und Jerrik schätzte seine Unterrichtsweise.

Auch dieses Mal wurde Jerrik nicht enttäuscht. Elbens Ideen waren unüblich, erschienen ihm jedoch als außerordentlich sinnvoll und effektiv. Einige Novizen würden bei dieser Prüfung vermutlich durchfallen, aber Jerrik war schon immer der Meinung gewesen, die Gilde sollte die weniger intelligenten Novizen ablehnen.

Dann beginnen wir den Abend doch mit etwas Erfreulichem. Lord Elbens Notizen mit Die Überlieferungen der Magier des Südens beschwerend, damit der eisige Wind sie nicht in seinem gesamten Büro verteilte, erhob Jerrik sich und schritt zu einer der Türen an der Seitenwand seines Büros. Er öffnete sie und trat in den schmalen Raum, dessen Seiten von bis an die Decke reichenden Aktenschränken ausgefüllt wurden. Die sich darin befindlichen Unterlagen über sämtliche Prüfungen, die an der Universität der Magiergilde jemals stattgefunden hatten, waren wie die Akten der Lehrer und Novizen nach einem strengen System geordnet. Jerrik öffnete mehrere Schränke und Schubladen, zog Mappen heraus, blätterte darin und steckte sie wieder weg, ganz in seine Arbeit versunken.

Ein lautes Rascheln aus seinem Büro ließ ihn herumfahren.

Durch den schmalen Türspalt sah Jerrik mit Text und Formeln beschriebene Papierbögen durch sein Büro segeln. Die Mappe in seiner Hand achtlos in die nächste geöffnete Schublade werfend stürzte er in sein Büro.

Der Stapel mit den Prüfungsvorschlägen war von einem Windstoß von seinem Schreibtisch geweht worden. So wie Lord Elbens Ideen.

Aber ich habe doch ...

Jerrik erstarrte. Die beiden Bücher, mit denen er die Unterlagen beschwert hatte, waren von seinem Schreibtisch verschwunden. Ebenso wie Die Künste des Minken Archipels.

Jerrik blinzelte verwirrt. Das war absolut unmöglich. Wie konnten diese drei Bücher verschwunden sein? Seinen Willen nach den Blättern ausstreckend ließ er diese wieder zu einem geordneten Haufen auf seinem Schreibtisch schweben und belegte diesen mit einer kleinen Barriere aus Magie. Dann sah er sich in seinem Büro um. Der Steinboden war bis auf die Regale an den Wänden, den Schreibtisch und zwei Stühle leer. Die Aktenschränke waren verschlossen und die Regale waren so vollgestopft wie eh und je. Nichts wies auf die drei Bücher hin, die wenig zuvor noch auf seinem Schreibtisch gelegen hatten. Die Tür zum Korridor war verschlossen.

Sie sind gestohlen worden! Jerriks Blick fiel zum Fenster. Er stürzte hinter seinen Schreibtisch und starrte hinaus in die Dunkelheit. Auf dem Universitätsgelände herrschte nichts als diese ganz besondere, andachtsvolle Stille, die nur dann herrschte, wenn der Abendunterricht beendet und die Novizenbibliothek geschlossen war. Nichts regte sich im Park und zwischen den Gebäuden, nirgends konnte er eine Spur des Täters sehen.

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