Bären lieben nun einmal Süßes

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Er sah noch ein letztes Mal zu seinen Eltern, ehe er sich abwandte und den Campus vor sich in Augenschein nahm. Die Columbia University in New York hatte ihm schlussendlich doch noch ein Football-Stipendium angeboten. Er hatte auch hart dafür arbeiten müssen. All das Training und die Spiele nahmen viel Zeit in Anspruch. Beinahe zu viel Zeit, denn seine Noten litten ein wenig unter seiner Karriere als Sportler. Er war jedoch keinesfalls ein schlechter Schüler. Seine Noten waren gut, doch ohne die Trainingszeiten hätte er noch mehr Zeit zum Lernen aufbringen können.


Trotz allem befand er sich nun an einem der beliebtesten Colleges in den USA. Er wusste, dass seine ganze Familie stolz war. Selbst sein Vater, der nicht viel vom Studieren hielt, ließ es sich nicht nehmen seinem einzigen Sohn zu gratulieren und ihn ziehen zu lassen. Ganz im Gegensatz zu seiner Mutter, die ihn erst gar nicht mehr aus ihrer bärenstarken Umarmung entlassen wollte. Für sie war er noch immer der kleine Junge, der früher von seinen Klassenkameraden schikaniert wurde, nur, weil er ein Spätzünder war.

Er stammte aus einer Kleinstadt aus Alaska. Dort lebte hauptsächlich seinesgleichen, denn dort fühlten sie sich wohl. Es gab eine ausgeprägte Waldlandschaft, die fast die ganze Stadt einrahmte. Die Winter waren lang und kalt, jedoch störte das die Bären nicht besonders. In diesem Teil der Erde hatten Bären eine lange Geschichte, die für ihn allerdings keine besonders große Rolle spielte. Immer, wenn die Alten versuchten längst vergangene Tage wieder aufleben zu lassen, schaltete er meist auf Durchzug. Er war nie sonderlich daran interessiert gewesen, den Rest seines Lebens in Palmer zu verbringen, so wie es sein Vater für ihn vorgesehen hatte.


Jetzt allerdings begann ein neuer Abschnitt seines Lebens, dessen neu gewonnenen Freiheiten er reichlich ausschöpfen würde. Sein Mundwinkel zuckte bei diesem Gedanken in die Höhe. Er war jung, stark und voller Vitalität. Diese Qualitäten musste man ausreizen, sonst verpasste man noch das halbe Leben. Besonders die Zeit auf dem College war die Zeit der Selbstfindung. Man musste zum ersten Mal ohne die Eltern auskommen und selbst Entscheidungen treffen. Entweder man traf die richtigen oder die falschen Entscheidungen, doch die Wahl lag bei einem selbst. „Aus Fehlern lernt man" sagte seine Mutter immer und er stimmte ihr – zumindest in diesem Punkt – vollkommen zu. Fehler machten einen zu dem Menschen, der man wirklich war.


Er sah auf die Uhr, die um sein Handgelenk geschlungen war. Mindestens fünf Minuten waren seit der Abfahrt seiner Eltern vergangen und er stand nur doof in der Gegend herum und betrachtete den Eingang des Campus. Sie hatten ihn samt des Gepäcks mitten auf dem Gehweg abgeladen und waren wieder zum Flughafen gefahren. Er konnte ja schon froh sein, dass sie überhaupt mit ihm nach New York geflogen waren, um sich zu verabschieden. Seinem Vater hätte er auch zugetraut, dass er mit ihm vor die Haustür ging, um ihm dann eiskalt ins Gesicht zu sagen, dass er sich die nächsten vier Jahre gefälligst nicht blicken lassen sollte. Julius Chaplin war wahrhaftig kein geselliger Artgenosse, da gab es keine Unterschiede zwischen Verwandtschaft oder Außenstehenden. Die einzige Ausnahme mochte wohl nur seine Mutter darstellen. Wenn er mit ihr zusammen war, erkannte man, warum sie es bereits seit vierunddreißig Jahren mit ihm aushielt.


Zu dieser Jahreszeit war es noch recht warm. Der September in Palmer hatte auf jeden Fall kühlere Temperaturen zu verzeichnen. Während in New York so um die 23°C herrschten, waren es Anfang September in Alaska meistens schon unter 10°C. Für ihn stellte dieser Wetterumschwung also Hochsommer dar, obwohl nicht einmal dann solche Temperaturen in Palmer herrschten.

Er trug trotz dieses Umstands eine lange, dunkle Jeans. Die Jacke jedoch hatte er vorsorglich schon auf dem Flughafen ausgezogen, sodass nun ein Shirt zum Vorschein kam. Normalerweise hatte er kein Problem damit, was andere von ihm dachten, doch da nun schon das vierte Mädchen an ihm vorbeilief, das sich noch einmal nach ihm umdrehte, nachdem es ihn passiert hatte, machte er sich Sorgen etwas falsch gemacht zu haben.

One shot: One hitWhere stories live. Discover now