Prolog - Das Mädchen, das untergeht.

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Layla.
Ich kenne den Tod schon lange, doch jetzt kennt der Tod auch mich.
Vorsichtig öffne ich die Augen, blinzle ein paarmal. Langsam weicht die Dunkelheit.
Huh? Wo bin ich? Ist das, das Jenseits?
Hin und her huschend schaue ich mich um und analysiere jedes kleinste Detail: Ein kahler Raum, erhellt nur vom grün- und rotleuchtenden Glimmen kleiner Apparate und dem Lichtstrahl, der durch die angelehnte Tür fällt. Die nächtliche Stille eines Krankenhaus, also. Mist. Ich hasse Krankenhäuser. Warum haben sie mich hierher gebracht?
Es kommt mir vor, als wäre ich aus einem tagelangen Albtraum erwacht. Ein dumpfer, kalter Schmerz in meiner Brust, in meinen Bauch, in meinen Ohren. In meinen Kopf der Klang von strömenden Wasser, das allmählich stärker wird. Langsam dämmert mir, was geschehen sein muss.
Ich habe überlebt.
Bilder tauchen auf. Wie ich mich kurz vor Einbruch der Dunkelheit aus meinem Zuhause stahl. Wie ich nur sehnte, dort fortzukommen, den Drang in mir keinen Moment länger an jenem Ort zu verweilen, als könnte ich die Luft dort nicht mehr atmen. Wie die abendliche Kälte und Schauer durch mein dünnes weißes Kleid drang und meine Haut wie Seide schimmern ließen. Der Geruch von Regen und feuchtem Boden strömte mir in die Nase. Und dann erreichte ich die steile Bergklippe, die über das tosende Wasser schwebte.
Beinahe hätte ich mich hinabgestürzt, doch die Aussicht von hier oben ist so überwältigend und beängstigend, dass ich zögerte. Noch ein letztes Mal sog ich den salzige Geruch der Küste und erinnerte mich an das, was ich zurückließ. Es überkam mir ein ähnliches Gefühl, wie wenn ich mich beim Baden anschickte, ins Wasser hineinzugehen, und vorher ein Gebet aussprach. Die gewohnte Bewegung bei der Ausführung meiner Gebete rief in meiner Seele eine ganze Reihe von Erinnerungen aus meiner Mädchen- und Kinderzeit wach, und plötzlich zerriss die Finsternis, die mir bisher alles verborgen hatte, und mein vergangenes Leben stand einen Augenblick lang mit allen seinen hellschimmernden Freuden vor meinem geistigen Blicke.
Aber ich wende die Augen nicht von schleudernden Wasser.
Und genau in dem Augenblick, wo meine Füße anfingen, sich den Abriss zu nähern, während ich mein letztes Gebet aussprach, warf ich mich ins Wasser, drückte den Kopf zwischen die Schultern und ließ meine Arme mit einer leichten Bewegung hinaus, als ob ich vorhätte, sogleich aufzufliegen, nieder. Aber im gleichen Augenblick erschrak ich mich über das, was ich tat.
Wo bin ich? Was tue ich? Weshalb?
Auf Instinkt versuchte ich mich zu retten, kämpfte darum aufrecht zu bleiben; aber etwas Gewaltiges, Unerbittliches traf mich mit einem Schlag und zog mich runter in den Abgrund des tiefen Ozeans fort.
»Gott, vergib mir alles!« flüsterte ich, da ich fühlte, dass ein Widerstand unmöglich sei. "Bitte helfe mir."
Doch das Wasser verschlingte meine Worte und Panik erfüllte mein Körper. Meine Arme kämpften sich durch das Wasser, ringend darum, die Oberfläche zu erreichen.
Mein Strampeln und Zappeln erzeugten eine Menge Blasen, aber es brachte mich nicht nach oben. Stattdessen fühlte es sich an, als würde ich noch schneller sinken.
Tiefer.
Tiefer.
Ich konnte nicht atmen.
Meine Lungen brannten.
Rettet mich... irgendjemand...
Aber in dieser einsamen Tiefe, umhüllt von der gnadenlosen Kälte des Ozeans, gab es niemanden, der mein stummes Flehen hören könnte. Alle Warnzeichen würden die Leute davon abhalten, sich diesem Ort auch nur zu nähern. Ich war der Idiot, der sich selbst umbringen wollte. Ich war diejenige, die sich in einer gefährlichen Lage gebracht hatte und jetzt versucht, davor zu fliehen. Nun, habe ich das bekommen, was ich wollte.
Dennoch...
Bitte...
Der Kampf in mir ließ langsam nach. Ich wurde immer erschöpfter. Obwohl ich all meine Anstrengungen darauf verwendete, meine Arme und Beine zu bewegen, funktionierte es einfach nicht.
Die Wahrheit trad mich ins Gesicht.
Ich werde sterben.
Hier.
Im Ozean.
Allein.
Mein einziger Gedanke galt meinem Zwillingsbruder und wer sich um ihn kümmern wird, wenn ich weg bin.
Es tut mir leid, Younes.
Ich wünschte, ich hätte es noch länger Zuhause ausgehalten. Ich wünschte, es wäre nie so gekommen.
Dunkelheit überzog mein Blickfeld, raubte mir meinen Zorn und mein letzten Atem, während ich mich dem unausweichlichen Ende übergab.
"Layla", erklingt eine sanfte, ältere Stimme durch den Raum, und entführt mich zurück ins Krankenhaus. "Gott sei Dank, bist du erwacht. Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht. Wie geht es dir? Geht es dir gut"
Meine Mutter... Unsere Beziehung ist in Wahrheit ein Gewirr aus Komplikationen, ziemlich kompliziert, aber in diesem Augenblick zeigt sie endlich eine Spur von Fürsorge für ihre Tochter. Ich lächle sie an und nicke, um ihr zu zeigen, dass ich in Ordnung bin, in der Hoffnung, dass es sie beruhigt.
Was mich jedoch mehr als die plötzliche Fürsorge meiner Mutter verwundert, ist die Frage, wie ich überhaupt überlebt habe. Was hat mich gerettet? Oder besser gesagt, wer? Wenn es nur jemanden gäbe, der mir Antworten geben könnte. Doch beim Umsehen wird mir schnell klar, dass niemand eine Ahnung hat. Also bleibt es an mir, es selbst herauszufinden.
Denk nach...
In der Stille höre ich jeden einzelnen Gedanken, und plötzlich bin ich hellwach. Ich beginne, meine Erinnerungen zu durchforsten, auf der Suche nach Hinweisen auf den Moment, in dem ich das Bewusstsein verlor...

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⏰ Last updated: Apr 07 ⏰

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