Chapitre de Rencontre

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~ Begegnungen ~

„Komm hierher! Schnell!", hörte ich da eine ziemlich jung klingende Jungenstimme ganz in meiner Nähe. Ich wusste nicht, von wem sie stammte. Verdammt, ich wusste nicht einmal, ob ich gemeint war. Doch momentan wäre mir alles lieber, als die grimmig dreinblickende Gruppe von bewaffneten Fremden.

Ich griff eine Handvoll Staub, Dreck und anderes undefinierbares Zeug vom Boden auf und schleuderte sie den Fremden schwungvoll ins Gesicht. Den Trick hatte ich einmal in einem Film gesehen. Beinahe selbst überrascht beobachtete ich, wie gut er doch funktioniert hatte.

Nach wie vor schlug mir mein Herz bis zum Hals und ich fühlte mich wie schweißgebadet. Eine kleine Kinderhand verschränkte sich mit meiner eigenen und zog mich mit sich. Ich folgte widerstandslos. Nach dieser Verfolgungsjagd und all den neuen Eindrücken, hatte ich einfach nicht mehr die Kraft und die Nerven für irgendetwas anderes.

Die wütenden Flüche meiner Verfolger gingen nach und nach in der restlichen Menschenmenge verloren, während wir, ich und der unbekannte kleine Junge, durch eine schmale Gasse hetzten. Wieso genau ich ihm einfach so vertraute? Naja, was blieb mir denn schon anderes übrig?

Der Junge stieß eine alte und ziemlich klapprige Tür auf und schob mich in den dunklen Raum dahinter. Es roch nach Heu und Staub und außer den schmalen Lichtstreifen, die durch die vernagelten Fenster fielen, war es düster und stickig. Aber ich hatte die Möglichkeit, endlich einmal durchzuatmen.

Das Adrenalin flaute langsam ab und hinterließ nur noch die Erschöpfung und die Schmerzen meiner aufgeschürften Handflächen. Vergesst, was ich da vorhin über Verfolgungsjagden gesagt habe. Sie sind wirklich verdammt anstrengend!

Er hatte die Tür inzwischen geschlossen und verriegelt und lauschte jetzt mit einem Ohr am Holz vermutlich nach eventuellen Verfolgern. In dem kleinen Raum herrschte zwar nur ein schwaches Zwielicht, doch trotzdem hatte ich jetzt erst wirklich die Möglichkeit, ihn genauer in Augenschein zu nehmen.

Er war jünger als ich erwartet hatte, vermutlich nicht einmal über zehn, schmal gebaut, schmächtig und irgendwie kränklich. Er wirkte zu klein geraten für sein Alter und erinnerte mich seltsamerweise an ein Vogelküken. Als er jetzt zu mir aufsah und mich der Blick der hellen, blauen Augen traf, durchfuhr mich ein undefinierbares Gefühl wie ein Blitzschlag.

„Danke", brachte ich ein bisschen keuchend hervor und konnte nicht sagen, ob das immer noch an der Verfolgungsjagd lag, oder inzwischen an etwas anderem. Der Junge lächelte mich schüchtern an und nickte. Seine dunkelbraunen Haare waren zerzaust und sein Gesicht schmutzig, aber seine Augen strahlten eine gewisse Unschuld aus, die mich berührte. 

Er erinnerte mich ein bisschen an meinen kleinen Bruder. Nicht unbedingt das Aussehen, mehr die Art, wie er zu mir aufsah. Sein Gesicht kam mir aber auch auf andere Art bekannt vor. Als hätte ich ihn schon einmal irgendwo gesehen. Ich fragte mich, wer er wohl war und was er hier so ganz alleine machte. Und vor allem fragte ich mich, wieso er mir geholfen hatte.

„Ich glaube, sie sind weg", meinte er leise und riss mich dadurch aus meinen Gedanken. „Wer?", hakte ich nach und merkte im nächsten Moment auch schon, wie dumm diese Frage eigentlich war. Der Junge schien nichts zu merken. „Die Revolutionäre", antwortete er mit unverhohlener Angst in seiner Stimme. 

Und dann machte irgendetwas in meinem Inneren Klick, als wäre etwas eingerastet. Die Erkenntnis traf mich wie ein Hammerschlag, nein mehr wie eine ganze Planierraupe: die veränderte Stadt, die seltsame Kleidung, die Wut der Menschen, die echten Waffen und dieser kleine Junge hier... Alles schien auf einmal zusammenzupassen und doch wieder überhaupt keinen Sinn zu machen. 

Ich war nicht gestorben, oder vielleicht war ich es. Das wusste ich nicht so genau. Ich war wirklich und wahrhaftig in einer anderen Zeit gelandet! Ich war im wahr gewordenen Traum eines jeden bücherverliebten Buchmädchens - oder Jungen, wir wollen ja schließlich politisch korrekt bleiben - gelandet! 

„Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Ludwig XVII" Hätte ich noch eine weitere Bestätigung für meine absolute hirnrissige Erklärung des Geschehens gebraucht, hätte ich sie spätestens jetzt auf einem Silbertablett serviert bekommen. Sowas konnte sich doch echt niemand ausdenken. 

Jetzt wusste ich auch wieder, wieso mir sein Gesicht so bekannt vorkam. Ich hatte es schon einmal gesehen: damals in der achten Klasse, Geschichtsunterricht. Ein neuzeitliches Gemälde gemalt von einem mir vollkommen unbekannten Maler, projiziert an unser Smartboard. 

Ich hatte damals der Stunde nicht viel Aufmerksamkeit gewidmet. Es war ein verregneter Vormittag im November, der dazu eingeladen hatte, mit den Gedanken abzuschweifen. Jetzt bereute ich es. Vielleicht hätte mir das hier weiterhelfen können. 

Doch mir war im Gedächtnis geblieben, wie leid mir der kleine Thronfolger Frankreichs getan hatte, auch, wenn ich die armen Bürger Frankreichs ebenso verstanden hätte. Sein Tod war nie sicher bestätigt worden -das wusste ich ebenfalls noch- ,obwohl er ziemlich wahrscheinlich war. 

Und genau dieser kleine Junge, der nie den Thron würde erben können, stand keine zwei Meter von mir entfernt und blickte mich an, als wäre ich das achte Weltwunder. Ich musste hier so fehl am Platz wirken, wie ein Einhorn auf einem Bauernhof. Doch ich fühlte mich nicht einmal halb so magisch. 

Eine ziemliche Erschöpfung schien mich auf einmal zu überkommen. Ich ließ mich an der staubigen Wand nach unten gleiten und blieb einfach auf dem dreckigen Boden sitzen. „Wo bin ich denn hier jetzt hineingeraten?", murmelte ich in meinen Jackenärmel hinein. 

Ich war nie wirklich ein Fan, von Zeitreise Büchern gewesen, doch eines wurde immer klar: Verändere die Vergangenheit nie, sonst hat das schreckliche Konsequenzen. Wieso, war ich dann hier? Wieso, war ausgerechnet ICH in dieser abstrusen Situation?! 

Ludwig schien mich von einer anderen Zimmerecke aus eingehend zu beobachten. Seine Unterlippe zitterte ein bisschen. Ich kannte diesen Jungen nicht, doch er tat mir leid und er hatte vermutlich mein Leben gerettet. 

Insgeheim wusste ich, diese Idee war absoluter Selbstmord. Was könnte denn das kleine schwarze Schaf Nora denn schon gegen die Weltgeschichte ausrichten?! Allerdings, wenn ich schon einmal hier war, konnte ich doch zumindest etwas ordentlich durcheinander bringen und nebenbei vielleicht das Leben, eines kleinen Jungen retten. 

Vielleicht war das ja die zweite Chance, die ich mir immer gewünscht hatte. 

 

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Le XVII ~ Révolution et RésilienceWhere stories live. Discover now