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Kian atmete befreit auf, nachdem er die Wagentüre ihres Autos hinter sich geschlossen hatte, und sah sich mit leuchtenden Augen um. Es fühlte sich an, als würde eine riesige Last von ihm abfallen, die ihm selbst bis eben noch das Atmen erschwerte. Als hätte ein kleiner Teil von ihm immer noch befürchtet, dass der abrupte Umzug doch nur ein Wunschtraum war und er jeden Augenblick aufwachen würde. Weiterhin die vertrauten Wände seines Zimmers um sich, vergraben zwischen den Kissen und Decken seines Bettes, nur ein paar Häuser vom Rudelhaus entfernt, in welchem Leon wohnte.

Doch das war es nicht.

Mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen wischte Kian sich die Träne aus dem Augenwinkel, bevor sie ihm über die Wange laufen konnte. Es war kein Traum. Er stand tatsächlich, etwa vierzig Minuten von Banff, Kanada entfernt, am Lake Louise und starrte auf das riesige, herrschaftliche Anwesen, inmitten eines herrlichen Mischwaldes am Fuße eines gigantischen Berges, in derer näheren Umgebung er weitere Gebäude aus Stein und Holz ausmachen konnte.
Wie hatte sein Vater gesagt - das Rudel von Goldenwood, der Name passte auf jeden Fall, welches von Alpha Ryan Mclean und seiner Gefährtin geleitet wurde. Einem alten Freund seines Vaters, den dieser offensichtlich postwendend um Hilfe gebeten hatte, als er seinen Eltern völlig aufgelöst und unter Tränen erzählte, was auf der Party zuvor geschehen war - und das war nur die grobe Beschreibung gewesen. Bevor er ihnen alles noch einmal anvertraute, nachdem er Tage später dazu in der Lage war, darüber zu reden, ohne beinahe zusammen zu brechen.
Blieb nur noch zu hoffen, dass dieser Clan nicht auch eine solche Abneigung gegen Omega hegte, was zwar laut seinem Dad nicht der Fall war-.
Nicht, dass er vorhatte viel Zeit in der Gegenwart ihres neuen Alpha zu verbringen, oder überhaupt in Gesellschaft anderer Wandler. Deren Nähe allein mittlerweile ausreichte, damit er das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen und seine Hände kaum merklich zu zittern anfingen, seine Eltern ausgeschlossen. Die abgesonderten Pheromone, anhand deren jeder ihresgleichen erkannte, welcher Rang der ihm gegenüberstehende hatte, ihre Blicke, die er mitunter auf sich spürte. Das teils offen zur Schau gestellte Gelächter, oder jenes hinter vorgehaltener Hand ... und der damit verbundene Schmerz. Alleine das Verlassen ihres Hauses hatte zum Schluss gereicht, um ihn nahezu in Panik geraten zu lassen. Wohl mitunter der ausschlaggebende Grund, neben der offenen Zurückweisung seines Gefährten, weshalb seine Eltern innerhalb zwei Wochen ihre Jobs gekündigt und all ihre Besitztümer von ihrem zu Hause etwas außerhalb Winnipegs, der Hauptstadt der kanadischen Provinz Minitoba, hierher in den Westen, bis an die Ausläufer der Rocky Mountains verfrachtet hatten.
Etwas, wofür er nicht wusste, wie er ihnen jemals danken sollte. Zeigte es ihm doch nur auf ein Neues, wie sehr seine Eltern ihn liebten und hinter ihm standen. Trotz alledem.

„Willkommen zu Hause Kian.“ Der junge Omega ließ seinen Blick nach rechts zur Seite schweifen, dem Gesicht der Person entgegen, die ihm genau in diesem Moment die Stirn küsste und ihre Arme um seinen Oberkörper schlang. Seine Mutter, wie sollte es auch anders sein, da sie nur zu dritt waren, er hatte keine Geschwister, und sein Vater war längst los um dem Alpha entgegenzulaufen. Schließlich war es so gut wie unmöglich, ein Dorf zu betreten, in welchem ausschließlich Wolfswandler und ihre Familien lebten, ohne bemerkt zu werden. Schon gar nicht, wenn man nicht einmal versuchte, sich einzuschleichen, und mit dem Auto die einzig vorhandene Zufahrtsstraße benutzte. Obwohl ‚Dorf‘ es in diesem Fall nicht wirklich traf. Vielmehr glich es einem prachtvollen Manor, samt einem gut gepflegten und gepflasterten Vorhof, von welchem aus kleinere Wege zu anderen Häusern zu führen schien.
Kian lächelte glücklich und hauchte ein leises ‚danke Mum‘, bevor er sich in die liebevolle Umarmung lehnte.
„- du wirst sehen mein Liebling ... alles wird gut. Ich durfte Ryan und Sophie, die Luna des Rudels, selbst schon vor Jahren kennenlernen. Es wird uns hier gut gehen – auch dir. Hätte dein Vater innerhalb unseres alten Rudels keine so hohe Stellung bekleidet, wären wir mit großer Wahrscheinlichkeit schon früher umgezogen. Mach dir also nicht so viele Gedanken mein Schatz.“
„Ich hoffe, du hast Recht.“ Kian seufzte leise und stellte sich wieder aufrecht hin. „Sie haben mich auch nur deswegen geduldet, oder? - wegen Dad, weil er einer der Beta vom Alpha war.“, Kian sog erneut die Luft langsam durch die Nase in seine Lunge, hielt sie dort einen Moment, bevor er sie geräuschvoll durch eben jene wieder entweichen ließ. Das Schweigen seiner Mum war ihm Antwort genug, obwohl er es sich schon gedacht hatte – dadurch war es jedoch nicht weniger schmerzhaft.
Doch bevor seine Gedanken mal wieder in düstere Regionen abdriften konnten, ließ eine Bewegung im Augenwinkel seinen Blick heben. Woraufhin er auf seinen Vater traf, der an der Seite eines stattlichen Mannes mit grau meliertem Haar, kurz getrimmten Bart, samt einem kantigen Gesicht und eng anliegenden Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln lief, wodurch die voll tätowierten Arme deutlich zu erkennen waren. Der Ausstrahlung nach eindeutig ein Alpha.
Das war also Ryan Mclean. Kian schluckte schwer, verschränkte seine Arme, zeitgleich zu seinen Fingern, die sich auf beiden Seiten in seine dünne Jacke krallten, und versuchte das unwohle Gefühl niederzukämpfen. Erfolglos.
Ohne es zu realisieren, trat Kian einen Schritt zurück, nahezu zeitgleich zu den beiden Männern, die vor ihnen stehen blieben.

„Hallo Ryan.“, Kians Mutter lächelte ihr fast immerwährendes freundliches Lächeln, überbrückte die letzte Distanz und schüttelte freundschaftlich die Hand des deutlich älteren Alpha, der das Lächeln aufrichtig erwiderte. „Hallo Lea, es freut mich ehrlich, euch wieder zu sehen – willkommen.“, einen Moment lang haftete der Blick Ryans noch auf Kians Mum, dann schweifte er weiter zu dem Omega in Abwehrhaltung. „-und du musst Kian sein. Ich hab schon ein wenig von dir gehört. Ich hoffe du fühlst dich wohl bei uns.“

„Hallo Mister Mclean.“, Kian kratze all seine Willensstärke zusammen und reichte dem freundlich lächelnden Alpha seine kaum merklich zitternde Hand, versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr er gegen den Drang ankämpfte weiter zurückzuweichen. Sein Herz schlug ihm längst bis zum Hals. Doch dagegen war er machtlos, genauso wie gegen sein kaum verständliches Gemurmel, von welchem er hoffte, dass es nicht ganz so von Angst ergriffen klang, wie er vermutete.
Herrgott ... er war fast achtzehn – und fühlte sich dennoch wie ein verschüchterter Teenager ohne Rückgrat. Ganz der unterwürfige Omega, den allein die Pheromone eines Alpha in die Knie zwangen. Wie sehr er es doch hasste ... wie sehr er die Mondgöttin in diesem Augenblick verfluchte, für das Schicksal, dass sie für ihn bestimmt hatte. Aber ändern konnte er es nicht. Niemand konnte das.
Er konnte sich nur fest vornehmen, es zu akzeptieren.
Zumindest hatte er bei diesem Mann nicht das Gefühl, dass er ihnen etwas vorspielte.

„Was haltet ihr davon, wenn ich euch euer zukünftiges Zuhause zeige? - es ist schon recht spät. Dann könnt ihr euch schon mal etwas einrichten, und morgen zeige ich euch das Anwesen samt dem Gelände.“ Kians Augen fokussierten sich abermals auf Ryan, der in diesem Moment seinen fragenden Blick zwischen ihnen schweifen ließ. Lea und Joshua nickten, doch es war Kians Mum, die antwortete. „Das klingt ausgezeichnet Ryan, danke.“

The only one - Das Rudel von GoldenwoodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt