"Möchten Sie uns die Ehre erweisen und ihre Erkenntnisse selbst mitteilen?", fragte Weber mit einem Zwinkern. Ich atmete tief. Ich hatte für gewöhnlich kein Problem mit dem Sprechen vor Menschen, immerhin stand ich seit dem vierten Lebensjahr regelmäßig auf Bühnen, wenn auch versteckt hinter einem Klavier, das anfangs meine gesamte Person verdeckte. Doch gab ich zu, dass diese unerwartete Situation ein wenig Nervosität in mir hochsteigen ließ. Dennoch nickte ich, stand entschlossen auf und bahnte mir den Weg durch die Tische herunter zu Herr Weber. Dieser drückte mir lächelnd die Ausarbeitung in die Hand, klopfte mir auf die Schulter und sprach etwas leiser zu mir: "Gute Arbeit, Eleonore! Ich habe nichts einzuwenden." Ich nickte, konzentriert auf die Aufgabe, die mir gleich bevor stand.

"Die Arie befindet sich in der Mitte des ersten Aktes. Romeo hat zuvor Tebaldo im Kampf ermordet und bekundet nun vor den versammelten Gegnern seine Reue und Anteilnahme. Er beginnt seine Arie nach einem kurzen Vorspiel, das sich aus Solo der Oboe das wiederum Romeos Thema aufgreift und dem darunterliegenden wellenförmigen Begleitung der Streicher, für mich als Herzschlag zu interpretieren, mit den Worten ASCOLTA! was so viel bedeutet wie 'Hört her!'. Musikalisch verfasst Bellini diesen Ausruf mit Hilfe einer absteigenden Oktave. Also der größtmögliche Tonabstand innerhalb einer Skala. Die nicht nur auf das Gehörverschaffen Romeos hinweist, sondern ebenfalls auch seinen Fall durch die Tat darstellen könnte."

Mit diesen Worten begann ich meinen Vorlesungslänge füllenden Vortrag an diesem Montagmorgen. Ich war in meinem Element. Redete und redete. Ich füllte die gesamten 40 Minuten, die von der Stunde noch übrig gewesen waren, bis ich ziemlich pünktlich zwei Minuten vor offiziellem Vorlesungsende meine Schlussworte fand. Herr Weber verfiel in einen Applaus. Etwas verwundert sah ich in die nicht uninteressierten Gesichter meiner Kommilitonen, die beeindruckt meiner Rede gelauscht hatten. "Sehr, sehr gut, Frau Morgenstern!" Er war von dem leerstehenden Tisch in der ersten Reihe aufgestanden, kam auf mich zu und strich mir lobend über den Rücken. Ich grinste breit und nickte dankbar. "So, mit diesen Eindrücken entlasse ich sie nun in die Woche!", richtete er seine Worte an alle und löste damit die gewöhnliche Einpackunruhe aus. "Eleonore, bleiben Sie bitte noch kurz bei mir.", suchte Herr Weber erneut meine Aufmerksamkeit, als ich mich auf dem Weg zu meinen restlichen Sachen machte. "Natürlich! Ich bin gleich wieder bei Ihnen!"

"Haben Sie bereits den Antrag auf das Fernstudium im Sommersemester beantragt?" Natürlich wollte er mich bezüglich der Staatsopernsache sprechen. Das hatte ich mir beinahe gedacht. Meine Laune änderte sich schlagartig. "Ich habe bis jetzt noch keine Antwort erhalten." Die Enttäuschung war meiner Stimme anzuhören. "Ehrlich?", seine Augenbrauen richteten sich nach oben. Ich nickte. "Das ist seltsam, denn als ich am Wochenende mit Herrn Winkler sprach, richtete er mir aus, das er sich sehr über Ihre Bewerbung gefreut habe. Man sprach in der Abteilung über Ihr Bewerbungsschreiben, die Motivation und Begeisterung, die daraus hervorging." Meine Augen machten Anstalten Herrn Weber zu verschlingen. "Wirklich?", fragt ich ungläubig, "Aber warum hat sich denn dann noch niemand gemeldet?" "Das wird sicherlich noch passieren. Die haben viel zu tun." Meine Hoffnung stieg von null auf hundert. Mein Tag war gerettet. Herr Weber legte mir ein Blatt vor die Nase. "Ich wollte Ihnen etwas Arbeit ersparen und habe Ihnen den Antrag für das Fernstudium schon einmal mitgebracht. Die Frist ist nämlich bereits am Freitag. Einfach ausfüllen und demnächst im Büro abgegeben." Ich warf einen kurzen Blick auf die vielen Kästchen, die darauf warteten ausgefüllt zu werden. "Vielen Dank!", hielt ich es für meine Plicht mitzuteilen und legte den Zettel sorgfältig in meinen Collegeblock. "Für Alles!", fügte ich danach an und lächelte glücklich in Herr Webers Gesicht. "Nichts zu danken, meine Liebe!" Ich schmunzelte. "Das war sehr, sehr gute Arbeit heute! Aus Ihnen kann wirklich etwas werden. So viel Leidenschaft und Begeisterung für eine Sache. Das findet man nicht oft." "Vielen lieben Dank. Es macht mir wahnsinnigen Spaß.", gestand ich. Wir verabschiedeten und trennten uns in unterschiedliche Richtungen, beide auf dem Weg zur nächsten Vorlesung.

Im Einklang des GesangesOn viuen les histories. Descobreix ara