Begnadet

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Die nächsten Monate bringen einige Erkenntnisse für mich. Die Erste? Es ist keine Migräneaura und es geht auch nicht weg. Damit habe ich eine ganze Weile gehadert, doch zum Arzt gehen wollte ich damit auch nicht. Und was sollte ich dem auch sagen? Ich bin nicht verrückt, denn ich funktioniere in allen anderen Bereichen sehr gut. Ich werde auch nicht immer und überall von diesen farbigen Linien belästigt oder besser gesagt, ich kann sie abstellen, indem ich mich kurz auf sie konzentriere. Klingt komisch, ist aber so, es wirkt wie ein Lichtschalter, mit dem ich sie ausknipsen kann. Sogar genügend Schlaf bekomme ich, auch wenn er nicht dazu dienen kann, dieser neuen Gabe zu entkommen. In regelmäßigen Abständen besucht mich einer der Geister aus der "Suppe" in meinen Träumen, fragt nach einer lebenden Bezugsperson und erzählt mir, wo ich diese finde und mit wem ich sie verkuppeln soll. Nicht dass die Geister sehr erfolgreich mit ihren Kuppelideen sind. Sie scheinen die Linien nicht wahrnehmen zu können, die mir oft genug zeigen, wie gut die jeweiligen Wunschpartner zusammen passen, nämlich gar nicht.

Die Forderungen der Geister bringen mich allerdings dazu, mir die Leute anzusehen und mich mit dem, was ich wahrnehme, auseinanderzusetzen. Und so lerne ich nach und nach, was die Linien zu bedeuten haben und was nicht. Es war nicht schwer zu verstehen, dass rot für die Liebe steht und hinter dem aufgeregten Summen der dünnen blassrosa Fäden eine frische, junge, aufkeimende Liebe steckt, während die breiten, dunkelroten, fast braunen Bänder, die zufrieden brummen, eine sehr alte Liebe anzeigen. Sie gehen von Herz zu Herz, richten sich manchmal zielgerichtet auf bestimmte Personen aus und flattern nur selten unbestimmt hin und her. Richtig auswerten kann ich diese Informationen aber nur, wenn ich ein Paar zusammen sehe. Dann zeigt sich, ob die Bänder, die sich zueinander hingezogen fühlen, die gleiche Intensität an Farbe haben, oder ob vielleicht sogar schon eine Verbindung besteht.

Größere Schwierigkeiten hatte ich zunächst mit den anderen Farben, was ich zum Teil den eigenen Vorurteilen zu verdanken hatte. Grün ist der Neid und so ein Quatsch. Auch die teilweise sehr wütend wirkenden Geräusche brachten mich zunächst zu der Überzeugung, dass ich auch negative Einflüsse wie Hass sehen kann. Auch das erwartet man irgendwie. Aber das ist das Verrückte an meiner Fähigkeit. "Liebe", so erklärt mir der Engel in einem meiner Träume, der immer dann erscheint, wenn ich nicht weiter weiß. "Liebe hat viele Gesichter und sie kommt zu jedem, der sie zulässt." Ja, ja, und wenn wir schon bei Plattitüden sind? Zu jedem Topf passt ein Deckel. Super zu erfahren, dass es stimmt. Jedenfalls erkenne ich schnell, dass Rot manchmal nicht die richtige Farbe für jemanden ist und dass hinter dem wütenden Knurren eher Leidenschaft als Hass steckt.

Zum Glück habe ich Unterstützung bei der Entschlüsselung des Farbencodes und Helfer bei der Übermittlung der Liebesbotschaften, denn ich kann keine imaginären Pfeile verschießen, um die Liebenden zusammenzubringen. Dafür muss man mit ihnen reden und sie auf "das Problem" oder "die Möglichkeit" aufmerksam machen, aber mal ehrlich, wie überzeugend klingt so etwas, von völlig Unbekannten dargebracht? Ganz zu schweigen, dass ich niemand bin, der Geisterbotschaften vermitteln will, die in den meisten Fällen sowieso für Humbug und Betrug gehalten werden. Und von den Geistern längst Verstorbener zu erzählen hilft auch nicht wirklich, oder zumindest nur sehr selten.

Meine Gefährten in Sachen Entschlüsselung und Verteilung von Botschaften heißen Robin und Ashley. Es fällt schwer, Ashley weiterhin als verrückt abzutun, wenn man gemeinsam die Existenz von Engeln und Geistern anerkennen muss. Robin hingegen weiß nichts von meiner "Gabe" und was dahinter steckt. Es reicht für die Vermittlung, wenn jeder an ein Talent geboren aus besonders gutem Einfühlungsvermögen glaubt. Die Pärchen aus der Agentur sind bestes Material, um die Farben hinter den Linien zu entschlüsseln, da sie bereit sind, sich auf uns einzulassen und all unsere Fragen zu beantworten. Heute weiß ich, dass das blaue Licht, welches das Herz meines ersten Opfers vor der Liebe "beschützt" hat, zu einer allerbesten Freundin gehört. Die beiden hatten mal was miteinander, sind aber im Guten auseinander gegangen, weil es nicht gepasst hat. Doch man ist nach wie vor befreundet und die Sorge dieser Freundin wirkte sich auf die Offenheit ihres Freundes aus. Er musste diese Sicherheit sprengen, zu der er sich immer wieder zurückzog, um sich für die passende Liebe zu öffnen. Ihm war es ebenso wenig bewusst wie besagter Freundin und die Erkenntnis allein brachte bereits den ersten Durchbruch.

Durch Robin und die Partnerschaftsagentur erkannte ich auch, dass Grün nichts mit Neid oder Eifersucht zu tun hat. Die grüne Liebe gehört zu denen, die mehr mit dem Kopf und weniger mit dem Herzen in eine Beziehung gehen und ich war überrascht festzustellen, dass sie nicht selten stabiler ist und weniger anfällig auf äußere Einflüsse reagiert, als die knallroten Liebesverbindungen. Die Farben rangieren auch hier vom hellsten Apfelgrün bis zum dunkelsten Waldgrün. Von ihnen gehen zum Beispiel eher Gefühle von Sicherheit statt Geborgenheit aus. Ich habe mich gefragt, warum sich die Beziehungen für eine Farbe entscheiden müssen. Wäre nicht eine Mischung aus mehreren Farben ideal?
"Natürlich gehören viele Farben zur perfekten Liebe, aber es ist immer eine Farbe, die vorherrscht und darauf musst du dich konzentrieren", erklärt mir mein Engel und dann auch, wieso ich bei mir selbst keine Linien sehen kann. "Gottes Gaben funktionieren nunmal so. Man darf nicht selbst von seinen Supermächten profitieren." Als Liebesbote selbst ungeliebt zu bleiben, erscheint mir irgendwie falsch, aber was soll ich mich mit ihm streiten? Er ist es, der die Stellenbeschreibung herausgibt, ich tue nur, was mir aufgetragen wurde.

Genau aus diesem Grund habe ich Robins Angebot abgelehnt.
"Willst du nicht eine Partnerschaft mit mir eingehen und mit ins Unternehmen einsteigen?" Nope, und ich werde auch auf jeden Fall meinen aktuellen Job behalten. Wer weiß, wie lange diese Gabe anhält und was passiert, wenn sie wieder verschwindet? Stattdessen betrachte ich das Farbenlesen als ein Hobby und verteile gute Ratschläge kostenlos an meine Kompagnons und jeden, den es interessiert. 

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