„Lass uns in den Flur gehen", schlägt er vor und ich nicke als Antwort und lasse mich führen.

Das Fenster am Ende des Korridors ist offen und kalte Nachtluft strömt herein. Gierig atme ich ein und genieße, wie die kühle Brise meine Lunge füllt und den Herzschlag beruhigt.

„Besser?" Sein Schmunzeln verrät ihn. Er ist eher amüsiert, als besorgt. Mein Herz schlägt Saltos gegen meine Rippen und meine Wangen sind rot wie Clownsnasen.
Verrückt. Bei Lucian schäme ich mich ständig.

"Ein bisschen", lüge ich.

Mit David war mir das nie passiert.

Er machte keine doppeldeutigen Andeutungen, bei ihm hatte ich immer gewusst, woran ich war. David ist direkt aber ehrlich. Ok, vergessen wir das mit dem ehrlich. Nur das direkt stimmt. Immerhin hat er auf der Party direkt mal eine andere befummelt.

Oh Gott. Selbst im Märchenpalast Venedigs mit einem waschechten goldenen Löwen an der Seite, macht sich David in meinem Kopf breit. Hat er das verdient, dass ich so oft an ihn denke? Habe ich es verdient, so von ihm bestimmt zu werden?

Ich sehe zu Lucian, der am Treppengeländer lehnt. Funken aus buntem Licht tanzen in seinen dunklen Haaren und es ist unmöglich, zu sagen, ob sie von den Kristallleuchtern kommen oder vom Glanz der Edelsteine in seiner Maske.

Er ist so anders als David.

Bei David hatte ich mich immer sicher gefühlt. Aber das anscheinend zu Unrecht. In Lucians Gegenwart knistert es dagegen überall, als wären meine Nerven vor Spannung elektrisch geladen.

„Kennst du das Geheimnis wahrer Liebe, Felicitas?" Lucian wendet sich mir zu.

Seine Frage stoppt meine Überlegungen, inwieweit seine Präsenz die elektrischen Impulse in meinen Synapsen zu beeinflussen vermag.

„Was?", frage ich zurück. Ich hatte ihn verstanden und doch starre ich gebannt auf seine Lippen, denn nichts wünsche ich mir sehnlicher, als eine Antwort auf diese Frage.

Kennt er sie? Die wahre Liebe?

Feli, er ist Italiener, die meinen doch alle, dass sie Experten in Sachen Liebe sind!

Ich verbiete der vorlauten Stimme den Mund und trete näher an Lucian heran.

Er ist jung, vielleicht 22? Und dennoch spüre ich, dass er schon mehr erlebt und gesehen hat, als ich mir je zu träumen gewagt habe. Es ist merkwürdig, aber irgendetwas an ihm, scheint nicht von dieser Welt zu sein. Er ist strahlender, als alles Irdische. Sogar auf seiner Haut liegt ein goldener Schimmer.

Quatsch. Feli, das ist die Macht und der Glanz des Geldes, die du siehst! Schau dich doch nur mal um! Der Typ schwimmt im Reichtum. Er ist ein hohes Tier und deshalb nicht von DEINER Welt! Das ist alles.

Nachdem mein Verstand die Lage für mich zusammengefasst hat, trete ich eilig zurück und vergrößere den Abstand zwischen uns.

Doch er folgt der Bewegung. Mit ausladenden, leicht federnden Schritten schließt er mühelos die Lücke und zieht mich an Hand und Hüfte näher, wie ein Tänzer, der sich mit seiner Partnerin am Höhepunkt der Kür vereint.

Und dann beugt er sich zu mir herab.

Das Schimmern hinter seiner Maske warnt mich und ich weiche so weit mit dem Oberkörper zurück, wie er es zulässt, denn um ein Haar streifen seine Lippen meine. Der Geruch von Limone und Rosmarin steigt mir in die Nase und kratzt leicht, wenn auch erst ganz hinten im Hals.

Ich schließe die Augen, nicht weil ich unbedingt geküsst werden will, sondern weil ich heilos überfordert bin.

„Sie hält ewig." Drei Wörter, so sanft gegen meine heißen Wangen gehaucht, dass sie sich anfühlen, wie drei Küsse. Ich öffne die Augen.
Und wieder verklapst er mich!

„Du machst dich über mich lustig!"

Er zieht die Brauen hoch: „Tue ich das?"

Ich weiß es nicht. Eben war ich noch sicher. Doch jetzt, als ich in das tiefe, klare Blau seiner Augen sehe, beschleicht mich der Verdacht, dass er gar nicht lügen kann.

So ein Quatsch! Doch die einzige Sicherheit, auf die ich bauen kann, ist mein rasendes Herz.

„Wie erkennt man sie denn? Die wahre Liebe?" Ich habe das Bedürfnis, ihn herauszufordern, nur so kann ich mir erklären, dass ich nachfrage. Denn für einen Fremden ist er mir noch immer viel zu nah.

Sein Blick streicht erneut über meine Lippen und schnell schiebe ich die Unterlippe unter die oberen Schneidezähne. Der soll ja nicht auf die Idee kommen, mich zu küssen!

Doch ihn scheint weder meine Frage noch meine Reaktion aus dem Konzept zu bringen. Im Gegenteil, er kommt mir so nah, dass das kalte Metall seiner Maske meine Stirn berührt. Das Blau seiner Augen fließt in mich hinein, wie Wasser aus einer Quelle in einen Teich.

„Deine Seele sagt es dir. – Alles, was du tun musst, ist hinhören."

Und ich versuche es. Ich halte sogar den Atem an, bis ich Lucians Grinsen bemerke und mich schrecklich ertappt fühle.

Er lacht. Der Ton schwingt tief in seiner Brust und nicht nur dort. Meine Zellen reagieren genauso darauf, wie die kleinen Härchen in meinem Nacken. Lucian gibt mich frei.

„Wenn deine Seele es dir sagt, kannst du es gar nicht überhören. Es ist ein Schreien, ein Klagen, dass dich innerlich zerreißt."

Oh. Jetzt bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich das erleben will. „Das hört sich schmerzhaft an." Hat er es bereits erlebt?

Ich mustere ihn genau. Doch unter der goldenen Maske ist es schwer, ihn als Person zu erkennen. „Ja, mia felicita, es ist sehr schmerzhaft, wenn es einseitig ist; doch wird der Ruf erwidert, geschieht etwas Einzigartiges."

Eine Welle erhebt sich im Blau hinter den Schlitzen. Ein ganzes Meer blickt mir entgegen.

„Was geschieht?", frage ich und halte die Luft an.

„Es blutet."

Verdattert starre ich ihn an. Die Wellen sind weg, als hätte es sie nie gegeben. Sein Blick ist ruhig und nur seine Mundwinkel zucken.

„Deine Unterlippe." In Zeitlupe sehe ich, wie die Kuppe seines Zeigefingers sich meiner Lippe nähert.

Hastig stolpere ich rückwärts und wische mir dabei mit dem Handrücken über den Mund. Erschreckt, starre ich auf den roten Strich, der jetzt darauf prangt und bete dafür, nicht wie ein Zombie auszusehen.

Nun, falls doch, schreckt es Lucian nicht ab.

„Du bis wunderschön Felicitas. Es macht mich glücklich, dich anzusehen - du bist meine Glückseligkeit. "

Noch während ich versuche, zu begreifen, was hier gerade passiert, ergänzt er: „Doch das reicht mir nicht!" Seine Ledersohle hebt sich vom Teppich, um einen weiteren Schritt auf mich zuzumachen.

„Äh ja, danke. Ich denke, ich muss jetzt gehen." Das ist meine Standartausflucht für brenzlige Situationen und ich schere mich nicht darum, ob sie jetzt Sinn macht oder nicht. Ich flüchte vor ihm in den Ballsaal zurück und recke den Kopf nach Jenna.



Die Maske des Dogen - das Geheimnis von VenedigWo Geschichten leben. Entdecke jetzt