Aller Anfang ist schwer...

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Nie sprach er ein Wort über sie. Nie hatte er ihre Züge beschrieben. Doch in diesem Moment schienen sie ihm klarer denn je. Sie auszusprechen würde ihm vielleicht helfen sie zu verinnerlichen. Scharf und kalkuliert. Fokussiert auf Effizienz und ein ihm fremdes Ziel, so würde er es heute aussprechen. Aber seine kindliche Naivität hatte es ihm damals nicht vergönnt. Er war zu jung gewesen, um ihre kalten Augen zu deuten die durch ihn gewandert waren, während sie vor einer antiken Ruine verweilt hatten. Er kannte weder ihren Namen noch ihre Geschichte. Alles, was er glaubte gewusst zu haben, waren die Worte seines Meisters, seines Vaters, gewesen. Er versuchte sich zu erinnern.

Der Wind glitt durch ihr silbernes Haar und umspielte die weiße Haut, die wirkte wie Kristall. Ihre Hand wanderte aus der Tasche ihrer blutroten Jacke und strich sich die Strähnen aus dem Gesicht. Ihre Stimme ertönte aus ihrem wohlgeformten Mund und ihre rosigen Lippen formten einen melodischen Satz. Und doch blieb es still. Es blieb still. Er konnte sich nicht erinnern, was sie gesagt hatte. Also hätte es alles sein können. Die Bewegungen ihrer Lippen hätten jedes Wort formen können. Jeder Moment. Jede Sekunde. Jeder Atemzug. Es war eine Erinnerung, die mit den fallenden Blättern verschwamm. Und egal wiesehr er versuchte den Augenblick zu fangen, nur eine leere Dunkelheit blieb ihm, bevor das hektische Klopfen einer hölzernen Tür und das grelle Sonnenlicht ihn aus diesem sinnlosen Traum holte.

Genervt öffnete Rumio seine verkrusteten Augenlider. Sie waren schwer und fühlten sich so fürchterlich trocken an, dass er die Brocken des Sandes auch ohne Augenreiben spüren konnte. Er richtete sich gähnend und grummelnd auf und warf dabei die dünne Sommerdecke von seinem Oberkörper. Sein Blick raste zu der Tür, die sich schräg vor ihm befand.
„Was?!" brüllte er ungehalten, als hätte man ihn aus einem angenehmen Traum rausgerissen, auch wenn er dieses fürchterliche Durcheinander kaum „angenehm" hätte nennen können. Es folgte eine kurze Pause und das Klopfen verstummte.
„Tenno verlangt nach dir!" antwortete eine rostende Stimme, die nur von Arex stammen konnte, dem alten, versoffenen Quatschkopf, der die lokale Bar gerne unsicher machte. Ergraut und doch mutig im Kampf. Ein guter Kamerad. Ein Freund. Weswegen Rumio ihm die Störung verzeihen würde.

„Ja. Ja, ich... Ich stehe auf!" murmelte der junge Mann, der sich daraufhin aus seinem Bett kämpfte. Er richtete seine Unterwäsche, das Einzige, was er zum Schlafen trug, und schlurfte mit nackten Füßen über den Fliesenboden in das ärmliche Badezimmer, in das nur die Toilette und eine kleine Wanne passte, die als Waschbecken fungierte. Der Spiegel hatte etliche Sprünge, seit einem Unfall über den Rumio nicht gerne nachdachte. Er griff seine abgegriffene Zahnbürste und schrubbte. Er packte das Rasiermesser, dass er immer als eine Notfallwaffe rumschleppte, und fuhr sich über seinen mit Wasser angefeuchteten und mit billigem Rasierschaum versehenen, roten Drei-Tage-Bart. „Au-!" entfuhr es ihm, nachdem die Klinge ihm am Kinn einen kleinen Schnitt verpasst hatte. Niemand hatte ihn gehört. Wenigstens ersparte ihm das dumme Fragen. Dumme Fragen am Morgen konnte er gar nicht leiden. Das übliche: „Wie hast du geschlafen?" oder „Hast du einen schönen Morgen?" würde ihn gerade heute nur zur Weißglut bringen. Schon wieder dieser beschissene Traum. Und schon wieder keine Antworten.

Das Wasser in der Toilette wollte mal wieder nicht richtig abfließen und Rumio stöhnte nur noch mehr. Wieso konnte eigentlich nicht einmal ein Morgen friedlich und ohne Probleme ablaufen? Er betätigte die Spülung wieder und wieder, bis er schließlich beschloss das Problem an jemand anderes weiterzurreichen. Irgendjemand würde sich für die sanitären Probleme verantwortlich fühlen, aber nicht er, weswegen er wieder in sein Schlaf-, Arbeits- und Trainingszimmer wanderte, das ein vielleicht fünf-mal-fünf Raum war. Das Bett schräg links von der Tür, der Schreibtisch darüber, vor dem Fenster, daneben ein verstaubtes Bücherregal samt Kommode und ganz rechts die Tür zum Bad. Natürlich lagen überall ungewaschene Klamotten und seine Kommode besaß nur noch wenige Sachen, die er hätte nutzen können, um vor das Oberhaupt zu treten. Er griff in einen Stapel Wäsche und wühlte nach seinem Lieblingsshirt. Er konnte den Stoff spüren. Abgenutzte Baumwolle und doch komfortabel und genau das, was er suchte. Abgesehen von der dünnen Unterwäsche die er mit diesem rauszog. Schwarz mit Rüschen und einem Blumenmuster. Definitiv Deidras. Oh ja, definitiv. Rumio konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Genau das hatte er gebraucht. Er würde sie ihr vorbeibringen. Zeitnah. Am besten noch bevor er das Oberhaupt aufsuchte.

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⏰ Last updated: Dec 05, 2023 ⏰

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Der WindsmaragdWhere stories live. Discover now