Ob ich es war in den letzten Jahren, weiß ich nicht. Ich war einsam. Aber es ging mir nicht schlecht so ganz alleine. Es war eine angenehme Einsamkeit, keine bedrückende. Ich musste mich um niemanden kümmern und keinem etwas erklären. Manchmal war es dagegen aber auch schrecklich. Dann, wenn ich jemanden zum Reden gebraucht hätte.

Natürlich hatte ich noch Ava, aber die lebte nun mal am anderen Ende der Welt. Es wäre schön zu glauben, dass wir uns immer getroffen hätten und hin und her geflogen sind, zwischen den Kontinenten. Aber so war das nicht. Schon alleine des Geldes wegen war diese Option komplett unmöglich.

Eine Auswanderung nach Amerika kam für mich nie infrage, vor allem nicht nach seinem Tod. Klar, es ist ein schönes Land, das seine Reize hat, aber für mich hängen zu viele schreckliche Erinnerungen mit diesem Land in Verbindung. Zu viel Trauer und Enttäuschung. Ich möchte meinen Aufenthalt dort nicht schlecht reden, denn es war vermutlich das schönste Jahr, das ich je gehabt habe, aber es war eben auch gleichzeitig das schrecklichste.

Ihr fragt euch sicher was aus mir geworden ist, wenn ich weder das studiert habe, was meine Eltern von mir erwartet hätten, noch nach Amerika ausgewandert bin. Das ist eine berechtigte Frage.

Ich habe das Land verlassen, bin nach England gezogen und arbeite nun mit herzkranken Kindern und Jugendlichen. Meine Selbsthilfegruppe ist keine gewöhnliche Selbsthilfegruppe, jedenfalls versuche ich mehr auf jeden individuell einzugehen, versuche mich mit ihren persönlichen Ängsten und Schwächen auseinanderzusetzen.

Reece hätte damals genauso eine Gruppe gebraucht. Und genau das ist der Grund warum ich sie gegründet habe. Denn mich plagen so viele Fragen seit seinem Tod. Ich frage mich, ob alles anders gelaufen wäre, wenn er von Anfang an Hilfe gehabt hätte. Wenn er jemanden gehabt hätte, dem er alles hätte erzählen können. Dem er sich hätte anvertrauen können. Seinen Schmerz. Sein Leiden. All die Jahre dieses Verstecken der wahren Gefühle. Er hat niemandem von seinen zunehmenden Schmerzen erzählt, weil er sich geschämt hat. Weil er nie schwach wirken wollte. Er wollte nie die Hilfe anderer in Anspruch nehmen.

Sein Ego hat ihm am Ende vermutlich das Leben gekostet.

Ich versuche all diesen Menschen hier in der Gruppe so loyal und hilfsbereit wie möglich entgegen zu treten und ihnen zu zeigen, dass sie zugeben können, wenn ihnen etwas wehtut. Dass sie nicht schwach sind, nur weil sie mal Schmerzen haben. Versuche sie nicht als Kinder, sondern als reife Menschen zu sehen. Ich möchte ihnen all das geben und sagen, dass ich Reece nie hatte geben und sagen können. Wenn ich schon nicht ihn hatte retten können, dann kann ich es wenigstens bei anderen versuchen.

Reece hat mein Leben komplett verändert. Ich hätte nie gedacht, dass ich der Zukunft so eine Gruppe leiten würde, dass sich mein Leben so wenden würde. Aber ich bin froh über das was ich tun kann. Ich bin so unendlich glücklich, dass ich all diesen jungen Menschen, die zu mir kommen, helfen kann. Manchmal gehen mir Fälle sehr nahe - so nahe, dass ich weinen muss.

Manchmal ist es einfach wichtig seine wahren Gefühle zu zeigen und seinen Stolz herunter zu schlucken.

Dieses eine Jahr in Amerika hat mein ganzes Leben komplett verändert. Wer weiß was heute wäre, wenn meine Mutter mich nicht hätte gehen lassen.

Wäre ich noch mit Max zusammen?

Oder noch mit Larissa und Jule befreundet?

Würde ich glücklich sein?

Vielleicht-

»Küken?«

Mein Herz sackt mir in die Hose, während sich meine Augen ganz groß werden. Ich zucke leicht zusammen und schaue auf.

»Ja, meine Eltern haben mir erlaubt ein Küken zu haben.«

»Warum gerade ein Küken?«

»Warum denn nicht?«

»Das ist doch schwul.«

Ein trauriges Lächeln legt sich um meine Lippen, als ich Alex und Tristan, zwei Jugendliche aus der Selbsthilfegruppe, diskutieren sehe. Die Beiden sind dreizehn und fünfzehn. Alex bemerkt meinen Blick und schaut zu mir. Er schmollt. »Emma! Erklär Tristan bitte mal, dass es nicht schwul ist, ein Küken als Haustier zu haben.«

Ich lache leise und schüttele den Kopf. »Innerlich ist er doch bloß neidisch über dein neues Haustier. Und jetzt ruft die anderen, wir gehen in den Stuhlkreis.«

Tristan sieht mich mit großen Augen an, während um uns herum langsam Leben erwacht. Viele kommen mit ihren Stühlen und machen wie gewohnt einen kleinen Stuhlkreis. In der Regel sind wir zehn Leute und die meisten Leute, die zu mir kommen sind zwischen neun und achtzehn.

»Ist etwas, Tristan?«, frage ich den kleinen Jungen, der mich immer an Reece erinnert. Er hat dieselben grünen Augen - nicht dieselben, aber sie sehen Reeces Augen sehr ähnlich - und denselben braunen Wuschelkopf. Selbst sein Gesicht erinnert mich an das von ihm. Manchmal da schaue ich ihm zu wie er mit den anderen redet und spielt, einfach nur weil ich das Gefühl habe Reece in ihm wieder zu erkennen.

»I-Ich hatte eine Frage... a-aber die klingt dumm«, murmelt er und schaut auf seinen Schoß, während die anderen im Stuhlkreis ihn mustern. Ich schaue einmal durch die Runde und lächle ihm schließlich aufmunternd zu. »Es gibt keine dummen Fragen hier, Tristan. Wir wollen sie alle hören, oder?«

Die Kinder nicken und rufen im Chor ein lautes »Ja«.

Tristan hebt den Blick, seine grünen Augen liegen auf mir. Er sieht aus, als könnte er jede Sekunde anfangen zu weinen, als er mit zitternden Lippen fragt: »Spürt man, wenn man stirbt?«

Mit allem habe ich gerechnet. Aber nicht mit so einer Frage. Die Frage, die ich mir seit Jahren stelle. Seitdem Reece sich bei mir verabschiedet hat, kurz bevor er gestorben ist. Oder hat er sich am Ende gar nicht verabschiedet? Aber es hat sich wie einer angefühlt. Nicht in diesem Moment, denn als das passiert ist, war ich einfach zu benebelt, um zu merken was geschieht - aber im Nachhinein. Ich habe diese Szene so oft in meinem Kopf wiederholt, immer und immer wieder. Seine Worte in mein Gedächtnis eingemeißelt, aber bis heute habe ich keine Antwort.

Wichtig für den Umgang mit diesen kranken Kindern ist, dass ich keinen von ihnen anlüge. Dass ich ihnen nicht irgendeinen Stuss erzähle, den man Kindern nun mal erzählt, um sie zu beruhigen. Gleichzeitig darf ich ihnen nicht die Hoffnungen nehmen, die sie noch besitzen. Und egal wie schlecht ihre Aussichten und Diagnosen auch sein mögen, sie dürfen niemals die Freude am Leben verlieren.

»Ich weiß es nicht«, antworte ich ehrlich. Ich presse die Lippen aufeinander, um nicht vor all diesen ängstlichen Kindern in Tränen auszubrechen. Ihre Augen sind auf mich gerichtet. Augen, die in ihren jungen Jahren schon mehr gesehen haben, als sie sollten.

Ich hebe den Blick, schaue auf, als würde sich die Antwort auf meine Frage dadurch ergeben. Doch auch die weiße Decke kann mir nicht weiterhelfen.

Hast du gespürt, dass du sterben wirst, Reece?

A Story of Broken HeartsWhere stories live. Discover now