Mein Vater, der in meinen Augen schon viel zu tief ins Glas geschaut hatte und lieber aufhören sollte zu reden, setzte zum erzählen an.
Wäre er nüchtern gewesen, dann hätte er sicherlich nicht diese Geschichte erzählt.

»Also«, sagte er und nahm lieber nochmal selber einen großen Schluck seines Whiskeys, bevor er weiterredete. »1974, um genau zu sein Sylvester 1974. Ich ging damals mit diesem umwerfenden Mädchen. Sie war liebevoll, zuvorkommend, intelligent und äußerst attraktiv. Ihre Berührungen elektrisierten mich und mit ihren grünen Augen schien sie in meine Seele schauen zu können. Diese Frau mit den perfekten braunen Haaren war einfach eine Wucht.« Ein breites Lächeln zierte sein Gesicht bei dieser Erinnerung.

»Die Beschreibung Ihrer Frau passt auch heute noch wie die Faust aufs Auge«, versuchte Ryan meiner Mutter zu schmeicheln, wobei mir aber auffiel, dass die Beschreibung so ganz und gar nicht auf meine Mutter passte.

»Nein, nein.« Mein Vater lachte laut auf und bestätigte das, was ich mir schon dachte. »Ich beschreibe nicht Alexias Mutter, sondern deine, mein Junge!«
Ryan verschluckte sich an seinem Drink und musste stark husten.

»Meine Mutter?«, fragte er nachdem er sich wieder einkriegte.
»Oh ja, Shirley war meine Freundin, bis zu dem Tag, wo dein Vater meiner Freundin die Zunge in den Hals steckte - Sylvester 1974.«
Ryan lachte ungläubig.
»Mein Vater hat Ihnen die Frau ausgespannt?!«
»Oh ja, der alte John hat mir die Frau ausgespannt.« Auch mein Vater lachte etwas ungläubig, so als ob er selber noch nicht ganz verstand, wie ihm sowas passieren konnte.

»Entschuldigen Sie, dass ich lache«, entschuldigte sich Ryan bei meinen Eltern, woraufhin mein Vater abwinkte.
»Ach, Ryan, heute kann ich auch drüber lachen. Aber damals«, spielerisch hob er den Finger, »damals hab ich ihn eine reingehauen.« Wieder lachte mein Vater. »Ob du es glaubst oder nicht, dein Vater und ich haben uns ins Jahr 1975 geprügelt.«
»Und wie ist es ausgegangen?«, fragte Ryan amüsiert, während er sein Glas in seiner Hand kreisen ließ.

»So wie es bei Männern immer so ausgeht. Ich hab ihm eine reingehauen, er hat mir eine rein gehauen und schlussendlich lagen wir beide mit blutiger Nase im Schnee und lachten. Ich hab ihm verziehen und auch wenn ich noch heute manchmal an die wunderschöne Shirley denken muss, hab ich ein paar Jahre später auch einen guten Fang gemacht - nicht wahr, mein Schatz?!«
Meine Mutter nickte ihm nur stumm zu, wobei ich ganz genau merkte, dass es ihr gegen den Strich ging, was mein Vater sagte - wie er über die andere Frau, Ryans Mutter, sprach.

Wie meine Mutter aber so war, rang sie sich den ganzen restlichen Abend nur ein Lächeln ab und nickte zu alledem, was mein betrunkener Vater noch so von sich gab.

Sie wird es wieder runter schlucken, dachte ich und gab mich mit dem zufrieden. Was anderes hätte ich sowieso nicht tun können! Selbst wenn ich meine Mutter drauf angesprochen hätte, sie unterstützt hätte, hätte sie mir nur gesagt, dass ich Stress provozierte, der nicht da war.
Sie hätte kein Problem mit dem, was mein Vater tat, hätte sie gesagt und spöttisch gelacht. Deshalb beließ ich es dabei.

So war meine Mutter nun mal und genau das verlangte sie auch von mir. Oftmals konnte ich genauso, wie sie, es runterschlucken. Allerdings habe ich durch Ryan auch gelernt akute Probleme anzusprechen.
Und trotzdem besann ich mich auf die von meiner Mutter aufgestellten Regeln und hätte mich niemals und vor allem nicht in Anwesenheit anderer Menschen, gegen Ryan gestellt - das wurde mir an diesem Abend klar.

                                    ***

»Worüber denkst du nach?«, fragte mich Ryan am Abend, als wir schon in seinem Bett saßen. Er hatte gemerkt, dass ich nicht ganz da war und mich irgendwas beschäftigte.

I never thoughtWhere stories live. Discover now