X. Das letzte Morgengrauen

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„Chaja ...", murmelte Majda überrascht.

„Uns?" Davor blinzelte sie verwirrt an.

„Ihr braucht ein unschuldiges Kind, nicht wahr? Ich werde Iljuscha sicher nicht mit Euch gehen lassen. Ihr müsst also mit mir Vorlieb nehmen. Ich bin jung und unschuldig genug." Ilja und Uljascha hatten durch die jüngsten Ereignisse schon genug durchmachen müssen. Nichts konnte Chaja davon überzeugen, Davor Kazminov den kleinen Jungen zum Ausheben von Gräbern und Enthaupten von Wiedergängern mitnehmen zu lassen.

„Nein, das werde ich nicht zulassen." Abram richtete sich auf.

„Du willst also, dass Iljuscha stattdessen geht?", fragte Chaja. „Er ist sieben."

Sie wappnete sich für die folgende Diskussion, aber ihr Vater schwieg. Ilja war nicht mehr so mutig und schien stadtessen sogar erleichtert zu sein, in der Wärme ihres Hauses bleiben zu dürfen. Und der Soldat zuckte bloß mit den Schultern, nachdem er im Gesicht des Priesters nach Zustimmung gesucht hatte.

„Gut. Dann, Chaja Abramovna, dürft Ihr den Weg weisen."

Der Friedhof, in den zarten Schleier von Nebel gehüllt und den ersten blassen Sonnenstrahlen beleuchtet, wirkte friedlich und beinahe freundlich, als sie ihn erreichten. Niemand hätte vermutet, dass er untote Kreaturen beherbergt. Trotzdem führte Chaja Davors Stute über die Gräber und wartete darauf, dass etwas geschah.

„Du hast mich gestern überrascht. Ich hätte dich nicht für so hartherzig gehalten und – du scheinst viel über Untote zu wissen", sagte Kazminov und ging neben dem Pferd her; ein ehrenwerter bielograder Bogatyr, bereit, sich dem Tod und seinen Kindern zu stellen.

Chaja blickte auf seinen blonden Haarschopf hinunter, den er sich heute nicht gekümmert hatte, mit einem Hut zu bedecken. Der Soldat schien nicht zu frieren, während sie selbst unter ihrem warmen Mantel in der eisigen Sonne fröstelte.

„Meine Großmutter hat es mir beigebracht."

„Sie war also –"

„Eine leidenschaftliche Liebhaberin von Märchen. Eine Eigenschaft, die ich von ihr geerbt habe", unterbrach ihn Chaja.

„Wo ist sie jetzt?", fragte Davor, ohne sie eines Blickes zu würdigen.

„Wir sind gerade auf dem Weg, sie zu besuchen", kam ihre ruhige Antwort.

„Was ist passiert?"

„Der Winter hat sie geholt."

Chaja hatte die ganze Nacht darüber nachgedacht: Stimmen, die nach Einlass verlangten, Menschen, die behaupteten, den Tod gesehen zu haben, andere, die verschwanden – starben – und Tote, die aufstanden ... Vasilisas Geschichte wurde lebendig, aber auf eine so grausame Weise, als wollte sie sich über ihre Naivität lustig machen. Was hätte ihre Großmutter wohl davon gehalten?

„Hüte dich vor den Stimmen im Wald", hatte sie einmal gesagt. Und als Chaja sie gefragt hatte, ob die Märchen wahr seien, ob es ein Haus mit Hühnerbeinen, einen Jungen namens Ivan Zarewitsch, der ein Mädchen namens Marja Morewna liebte, und einen Todesgott namens Karatschun gab, hatte sie ihr durch die Haare gestrichen und geantwortet: „Manche Märchen sind wahr, manche sind nur das. Geschichten. Das ändert jedoch nichts an der Wahrheit ihrer Bedeutung. Vergiss nie, wenn du eine Geschichte erzählst, machst du sie zu einem Teil der Wirklichkeit."

Jovanka hatte ihren Kindern gesagt, sie sollten die Dunkelheit lieben, denn nur die Einfältigen hielten den hellerleuchteten Pfad immer für den sichersten. Und nun kam der Priester und lehrte sie, die Dunkelheit noch mehr zu fürchten als je zuvor.

Vom Tode unberührtWhere stories live. Discover now