Kapitel 2

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Ich atmete tief ein und zählte innerlich bis drei, dann öffnete ich die Augen und starrte in den Spiegel.
"Und? Wie findest du es?" fragte Grace gespannt.
Ich musste meinen Anblick erst einmal verdauen.
Die letzte halbe Stunde hatte sie sich meinem Umstyling gewidmet und ich musste zugeben: das Ergebnis war beeindruckend.
Meine dunkelbraunen Haare, die sonst immer eher drahtig vom Kopf abstanden, fielen in sanften Wellen über meine Schultern.
Mein Gesicht konnte ich gerade noch unter der Make-Up-Schicht erkennen: auf einmal hatte ich makellose Haut und zart rosafarbene Wangen.
Meine Lippen hatte Grace unauffällig gehalten, und den Schwerpunkt auf die Augen gelegt. Ich hätte gerne blaue oder sogar grüne Augen gehabt, aber leider waren sie braun. Braune Haare, braune Augen. Langweilig.
Aber durch Mascara, Eyeliner und Lidschatten wurden sie optisch vergrößert, und das sah schon ein wenig gruselig aus. Alienhaft. Zögernd hob ich die Hand, aber Grace packte sie und rief:
"Stop, nicht anfassen! Du darfst auf keinen Fall mein Meisterwerk zerstören."

"Ich weiß nicht..." murmelte ich unsicher. "Das ist echt hübsch, aber das bin nicht ich, Grace. Das sieht aus wie ein erschrecktes Rehkitz!"

Seufzend schüttelte sie den Kopf.
"Du bist echt merkwürdig, Jen. Andere Mädchen machen das freiwillig jeden Morgen."

"Noch ein Grund mehr, es nicht zu tun", erwiderte ich bockig.
Grace lachte und drückte mich vorsichtig. "Ich weiß, und das liebe ich an dir. Jetzt aber mal zackig! Schwing dich in dein Kleid, wir wollen ja nicht zu meiner eigenen Party zu spät kommen."
Sie war extra zu mir gefahren, um mich fertig zu machen und mich mit zu ihr zu nehmen. Ich hatte nämlich kein Auto und die vier Kilometer auf hochhackigen Schuhen... keine gute Idee.
Also fummelte ich das Kleid vom Bügel und zwängte mich umständlich rein. Natürlich hatte Grace es ausgesucht, ich hatte nur mit Mühe verhindern können, dass es ein Exemplar wurde, dass weder oben noch unten ausreichend bedeckte. Dennoch wurde es schließlich ein dunkelblaues Kleid mit einem Träger und hängendem Stoff an einem Arm.
Ich hatte so meine Zweifel, schließlich gingen wir gleich auf eine Party. Trug man Kleider nicht eher auf Galas oder Bällen?
Ich hatte absolut keine Ahnung.
Auf Grace' Gedrängel hin beeilte ich mich mit dem Kleid und den Schuhen. In meinem Leben war ich bis jetzt genau zweimal auf hochhackigen Schuhen gelaufen: bei der Taufe meiner Cousine und bei der Beerdigung einer Freundin meiner Mutter.
Ich stellte mich dementsprechend schlecht an, was Grace zur Weißglut trieb. "Mensch Jenna, so schwer ist das doch nicht! Hör auf den Fuß abzurollen, und- aaarghhh, vergiss es. Ich stütz dich bis zum Auto und auf der Party musst du dann halt mit Krücken rumlaufen."
Obwohl der Sarkasmus kaum zu überhören war, merkte ich, dass ein Körnchen Wahrheit doch drinsteckte.
Unbeholfen stakste ich los und krallte mich krampfhaft an Grace' Arm fest. Als wir endlich beim Auto ankamen, fühlte ich mich, als wäre ich einen Marathon gelaufen und ließ mich mit einem erleichterten Schnaufen auf den Sitz fallen.
Mit einem letzten prüfenden Seitenblick auf mich fuhr sie los.

Wenige Minuten später hielten wir vor ihrem Haus. Draußen waren bereits Lichterketten und Lampions angebracht, was in der Dämmerung ziemlich hübsch aussah. Sofort flitzte Grace ins Haus und überließ es mir, lebendig hinterher zu kommen. Nach einer mühsamen Prozedur und sehr vielen Trippelschritten schaffte ich es schließlich.
Obwohl ich Grace beim Schmücken und Aufbauen geholfen hatte, haute mich der Anblick um: Das Wohnzimmer war zu einer großen Tanzfläche umgebaut worden, inklusive Discokugel an der Decke. Im Flur stand das Buffet.
An einer Wand hatten wir eine Musikanlage aufgebaut und die Lautsprecher über das ganze Zimmer verteilt. Die wichtigsten Zimmer waren bereits abgeschlossen, mit Ausnahme dem von Grace. Sie saß im Bad und machte sich fertig, was noch eine Weile dauern konnte.
Ich lief die Treppe hoch in ihr Zimmer und schnappte mir eine Zeitung, die auf ihrem Bett lag. Es war eine dieser albernen Mädchenzeitschriften, in denen über Stars hergezogen, Schminktipps gegeben und neue Looks gezeigt wurden.
Seufzend schlug ich die erste Seite auf.
"Star-Interview mit Riri"
Wer war bitte Riri? Egal.
"Welcher Flirt-Typ bist du? Mach den Test!"
Diese Zeitung schien echt nichts brauchbares zu schreiben.
"One Direction- wichtige News zu ihrer neuen Tour"
Ich musterte die Typen. Von den fünf sahen alle ganz okay aus, es stach aber keiner besonders heraus, außer einem Kerl mit einem albernen Hut und längeren Locken. Im Grunde sah er aus wie ein versehentlich ins 21. Jahrhundert gerutschte Hippie. Ich wollte gerade weiterblättern, als Grace ins Zimmer gerauscht kam. Sie trug ein ziemlich kurzes, aber gutaussehendes rotes Cocktailkleid, welches ihre Figur und blonden Haare betonte.
"Wow, du siehst toll aus!" sagte ich bewundernd.
Grace strahlte über beide Backen. "Die ersten Gäste müssten jeden Moment kommen!"
In diesem Moment klingelte es an der Haustür, und im Bruchteil einer Sekunde war Grace verschwunden, um ihnen zu öffnen.

„Lasset die Hungerspiele beginnen", murmelte ich leise, bevor ich mit einem leisen Seufzer aufstand und ihr folgte.

Undercover || Niall HoranWo Geschichten leben. Entdecke jetzt