Meine Mutter bedachte mich mit einem prüfenden Blick, dann seufzte sie leise.

"Du siehst schlecht aus, mein Kind. Du bist so dünn geworden und wirkst erschöpft", sagte sie mit besorgter Stimme und ich konnte es ihr nicht verdenken.

"Es war einfach viel Stress in den letzten Monaten, das wird schon wieder. Ich denke nicht, dass ich in nächster Zeit nochmal kurzfristig zu einem Auftrag nach Italien oder sonstwohin geschickt werde und die Nationalpolitik hat keine Andeutungen gemacht, dass in naher Zukunft irgendwas ganz besonders großes passieren wird, also sollte es jetzt erstmal ein wenig ruhiger werden."

"Hast du an Weihnachten schon etwas vor? Wir würden uns freuen, wenn du wieder mit uns feierst."

"Über Weihnachten hab ich ehrlich gesagt noch nicht wirklich nachgedacht, das kommt mir noch ewig weit weg vor. Haben Coco und Jules schon irgendwas von sich hören lassen?"

"Sie werden vom 23. bis 25. hier sein und fahren am 25. mittags zu seinen Eltern nach Deutschland", antwortete meine Mutter mit einem strahlenden Lächeln, weil sie sich offensichtlich schon sehr darauf freute.

"Dann werde ich es den beiden denke ich gleichtun und vom 23. bis 25. herkommen. Der 23. ist meines Wissens ein Freitag, also ein normaler Arbeitstag, deshalb werde ich wohl erst recht spät hier ankommen."

"Das ist kein Problem, bei deiner Schwester wird es wohl auch nicht wesentlich früher."

"Wirklich nicht? Ist die Grundschule nicht schon mittags zu Ende?", hakte ich verwirrt nach, woraufhin meinem Vater ein leises Lachen entfloh.

"Natürlich, aber Jules hat bis zum späten Nachmittag in der Bank zu tun und sie können erst losfahren, wenn er Feierabend hat", erklärte er schmunzelnd.

"Na gut, dann hätten wir das ja wohl geklärt. Und wie wird es an Silvester?", machte meine Mutter mit dem nächsten Punkt auf ihrer imaginären Check-Liste weiter und ich biss mir ein wenig unsicher auf die Lippe.

"Esteban und seine Freundin haben mich eingeladen, mit ihnen und ein paar anderen Freunden zu feiern", erzählte ich vorsichtig und wartete gespannt auf die Reaktionen meiner Eltern.

Sie wussten, dass ich gestern bei seiner Geburtstagsfeier gewesen war und dass wir seit meinem Job in Le Castellet in Kontakt waren, aber bisher hatte ich immer das Gefühl gehabt, etwas daran würde sie stören. Als sie jetzt beide erstmal schwiegen, wurde dieses Gefühl noch bestärkt.

"Oh, das ist ja... schön", brachte Maman schließlich über die Lippen, woraufhin ich sie forschend musterte.

"Habt ihr irgendein Problem damit?", hakte ich misstrauisch nach und sah, wie meine Eltern einen kurzen Blick austauschten, den ich nicht deuten konnte.

"Nein, nicht... nicht direkt. Wir machen uns nur Gedanken, dass du durch Esteban auch wieder Kontakt zu Pierre haben könntest und wir wollen nicht, dass es dir wieder so schlecht geht wie vor fast sechs Jahren", gestand Maman und ich begann unwillkürlich meine Hände zu kneten.

"Die beiden verstehen sich immer noch nicht wirklich gut, also besteht diese Gefahr nicht", antwortete ich, wohlwissend, dass Pierre und Esteban nächstes Jahr vielleicht Teamkollegen sein würden, "Außerdem sind sechs Jahre eine lange Zeit, das mit Pierre und mir ist schon ewig vorbei."

"Aber du hast doch gesehen, was mit dir passiert ist, als du ihn Ende Juli bei dem Rennen wiedergesehen hast", warf mein Vater ein, woraufhin ich entschlossen den Kopf schüttelte.

"Nicht mein Wiedersehen mit Pierre war das Problem, sondern die Konsequenzen, die den Fotos und Videos von uns geschuldet waren", widersprach ich, obwohl das nur die halbe Wahrheit war, "Und ich kann nicht mein ganzes Leben lang auf Freundschaften verzichten, nur weil die Möglichkeit besteht, dass die Menschen etwas mit Pierre zu tun haben."

Besorgt schaute Maman mich an und ich konnte ihrem Blick nur schwer standhalten.

"Aber Esteban wird dich wieder auf Rennstrecken bringen, das wird so viele Erinnerungen wecken. Du weißt doch, wie schlecht es dir damals nach eurer Trennung ging. Willst du wieder einen Nervenzusammenbruch riskieren?"

Angestrengt schluckte ich den Kloß herunter, der sich in meinem Hals gebildet hatte und räusperte mich vernehmlich.

"Nein, ich will keinen weiteren Nervenzusammenbruch riskieren, aber das war damals etwas einmaliges. Ich war einfach total fertig mit der Welt und wahnsinnig überfordert, aber nach dem halben Jahr im Kloster ging es mir deutlich besser und ich hab mein Leben wieder in den Griff gekriegt, oder nicht?"

"Du warst seitdem in keiner einzigen Beziehung", entgegnete meine Mutter und ich schnappte fassungslos nach Luft, denn langsam kam ich mir wie ein verhörtes Kleinkind vor.

"Ihr wisst doch überhaupt nicht, ob ich vielleicht in einer Beziehung war, von der ich euch nur nichts erzählt habe, weil sie nicht lange gedauert hat oder so. Und selbst wenn ich keine Beziehung hatte, heißt das nicht, dass ich mein Leben nicht im Griff habe. Ich brauche keinen Freund, ich hab genug mit meiner Arbeit zu tun."

"Deine Arbeit wird dich aber nicht für immer erfüllen und wir wünschen uns, dass du irgendwann doch noch den Richtigen für dich triffst", antwortete Maman mit Tränen in den Augen und es fiel mir schwer, nicht auch feuchte Augen zu kriegen.

"Ich bin 25 Jahre alt, ich hab noch Zeit, um den Richtigen zu finden. Jetzt gerade will ich einfach nur meinen Job so gut wie möglich machen, um meine Karriere voranzubringen und mich wieder mit Esteban anzufreunden, ist schon ein großer Schritt für mich, weil ich außerhalb der Arbeit nicht wirklich Freunde habe. Also bitte freut euch für mich und macht euch nicht so viele Sorgen."

Ich sah, dass Maman einen Augenblick lang mit sich rang, dann nickte sie kapitulierend.

"Also schön."

Aus der Ferne war ein leises Klingeln zu hören, das uns alle merklich zusammenzucken ließ, dann nickte meine Mutter und stand auf.

"Das war der Wecker. Das Essen ist fertig."

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