Den Rest der Fahrt sprach ich kein Wort. Sie kam mir nicht halb so lang vor wie die Hinfahrt. Vermutlich weil ich nicht ankommen wollte. Linda holte uns vom Zug ab. Ihr war die Trauer ebenso anzumerken wie Jace. Zum ersten Mal kam mir der Gedanke, dass sie nur bei Julian geblieben sein könnte, weil sie ihn liebte, auch wenn sie ihn nie würde haben können. Sie tat mir auf einmal sehr leid.

Wir luden unsere Taschen in das Auto. Wir entschieden, dass Miriam, Lorelay und Jace mit Finn im Auto fahren sollten. Cole und ich sollten zu Fuß, oder besser gesagt zu Pfoten laufen. Ich musste nicht lange überlegen, welche Erinnerung ich benutzen konnte, um eine Emotion für die Verwandlung in mir wach zu rufen. Ein Gedanke an das Kinderheim und die Umstände dort ließen mich sofort wütend werden. Diese wenigen Sekunden, in denen ich von Julians Tod abgelenkt war, wurde mir wieder klar, dass ich Anna und Elena unbedingt helfen wollte. Ich würde alles daransetzen, sie aus dem Kinderheim zu holen, Annas Traum wahr werden zu lassen. Denn ich musste immer wieder an ihre hoffnungsvollen und gottvertrauenden Augen denken. Sie war ein Vorbild für mich, genauso wie Elena.

Cole und ich liefen nebeneinander her. Vielleicht könnte ich ihn überreden, Anna zu adoptieren, wenn wir geheiratet hatten. Elena würde es vielleicht schon reichen, wenn wir einen Job und eine Unterkunft für sie fanden.

Mehr Gedanken durfte ich daran nicht zulassen, denn das waren glückliche Gedanken, die mich wieder zurückverwandeln könnten, wo ich es doch jetzt geschafft hatte, meine Gestalt zu ändern.

Ich rannte so schnell ich konnte, als könnte ich meinen Problemen davonlaufen. Erst als wir in der Schule ankamen, viel zu früh, wie ich fand, kam mir der Gedanke, dass ich Zeit hätte schwinden können, wenn ich langsamer gelaufen wäre. Cole hätte sich an mein Tempo angepasst, egal wie schnell oder langsam ich gewesen wäre.

Erst im Innenhof wurden wir wieder zu Menschen. Die anderen waren noch nicht da. Letzte Schüler waren noch draußen, schauten uns komisch an, gingen aber schnell schlafen.

Wir warteten keine fünf Minuten, bis Linda auf den Hof gefahren kamen. Es stiegen alle aus, nur Linda fuhr den Wagen in die Garage. Jace war blass und ich konnte die Angst in seinen Augen sehen. Er sah genauso aus, wie ich mich fühlte. Wir warteten nicht auf Linda, sondern machten uns sofort auf den Weg in die Gemächer des Schulleiters.

Vor der Tür blieb Jace stehen. Ich konnte verstehen, warum er nicht weiter wollte. Ich wollte es auch nicht. Lorelay machte schließlich die Tür auf und betrat die Bibliothek dahinter. Der Stuhl hinter dem riesigen Schreibtisch war leer. Man konnte denken, Julian wäre nur kurz in sein Zimmer gegangen, um die Jeans zu wechseln oder sonst was. Aber wir wussten es alle besser.

Emma kam aus der Nebentür, die, wie ich wusste in den Raum mit dem Kamin und den Sofas führte. Ihre Augen waren rot vom vielen Weinen und auch jetzt glänzten ihre Wangen von Tränen.

„Er ist hier“, krächzte sie und führte uns durch die Tür.

Ich wollte ihn nicht sehen. Mein Blick wanderte durch den Raum, nur um nicht zur Sofaecke schwenken zu müssen. Eine warme Hand schob sich in meine. Ich wandte mich um. Cole hielt meine als auch Jace' Hand in seinen. Jace starrte aber bereits in Richtung Ledersofa. Tränen flossen, ohne aufzuhören. Ganz langsam und nur, weil ich wusste, dass ich es irgendwann tun musste, folgte mein Blick dem seinen.

Emma kauerte sich über einen Körper, hielt die Hand in ihrer und schluchzte.

Ich ließ Coles Hand los und ging näher. Mein Herz klopfte so schnell und heftig, dass es wehtat. Ein ganz anderes Herzklopfen als das, das mich befiel, wenn Cole mich küsste. Mein Atem ging so schnell, dass mir beinahe schwindelig wurde. Meine Knie und meine Hände zitterten. Ich ballte sie zu Fäusten und löste sie wieder. Dann tat ich die letzten Schritte.

Da lag er. Er sah aus als ob er schliefe, wenn nicht das Loch und das Blut an der Stelle geprangt hätten, wo sein Herz sein sollte. Seine Augen waren geschlossen, seine Lippen leicht aufeinander gelegt, sein Gesichtsausdruck entspannt. Und gerade weil er so aussah, als schliefe er, machte das alles noch schlimmer. Hinter mir wimmerte Jace schmerzerfüllt auf. Er stützte zum Sofa und fiel auf die Knie. Er schluchzte herzzerreißend. Das war sein Vater, der dort vor ihm lag, tot. Marlene nahm ihm Finn aus dem Arm und ging mit ihm raus. Cole ging zu Jace und nahm ihn ganz fest in den Arm.

Ich ertrug dieses Bild von Schmerz und Trauer und Leid nicht länger. Ich verließ den Raum, die Gemächer, das Gebäude. Ich wankte, aber meine Augen blieben immer noch trocken. Erst als ich in meinem Bett lag, mich ganz klein zusammenkauerte, erst als mir und auch meinem Herzen wirklich klar wurde, dass mein Vater, der mich geliebt und den ich geliebt hatte, tot, wirklich tot, war, erst dann floss die erste Träne. Und die zweite und die dritte, und sie hörten nicht mehr auf. Mir war auf einmal so unendlich kalt.

Tränen von BlutWhere stories live. Discover now