Der letzte Brief von dir

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Mit klopfendem Herzen und schwitzigen Händen schlitze ich den Briefumschlag auf. Bitte nicht das, was ich vermute. Ich weiß, mein letzter Brief ist riskant gewesen, aber ich würde es echt nicht überleben, wenn er mir nicht mehr schreiben würde. Seine Briefe sind das Einzige, was mich den Wahnsinn in der Schule überleben lässt. Zitternd ziehe ich das schmale Papier aus dem Umschlag und falte den Brief auseinander. Einatmen. Ausatmen. Die Verbindung zwischen uns ist stark. Sie wird auch meinen letzten Brief überstehen.

Liebste Conny,
ich danke dir für deinen letzten Brief, auch wenn mich dieser überrascht hat. Ich weiß noch genau, wie wir uns kennenlernten. Letztes Halloween bei dieser amüsanten Dorfsause. Du hast auf den Treppen vor dem Gemeindehaus gesessen und geflucht, weil dir jemand sein Getränk über das Gewand geschüttet hat. Ich habe mich neben dich gesetzt. Wir haben die ganze Nacht geredet und ich konnte dir deinen Kummer nehmen. An diesem Tag wusste ich bereits, was für ein wundervolles Geschöpf du bist. Ich kann dir aus tiefstem Herzen sagen, dass auch ich dich liebe. Seit dem ersten Tage, an dem ich dich sah.

Ich lasse den Brief sinken, kaum fähig, noch einen Atemzug zu machen. Niemals hätte ich gedacht, dass man sich nur in einem einzigen Moment über ein paar Briefe verlieben kann. Aber Louis ist anders. Er gibt mir mit jedem Wort das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, dass ich mutig bin und alles schaffen kann. Im letzten Brief an ihn habe ich ihm von meinen Gefühlen berichtet. Klar, ich hatte Angst, er würde mich für verrückt erklären, schließlich haben wir uns nur einmal im Leben getroffen. Bisher haben wir es wegen seiner Arbeit nicht geschafft uns wiederzusehen. Doch jedes Mal, wenn ich einen Brief von ihm aus dem Kasten holte, war es, als ob er vor mir stehen würde. Ich schlucke. Er hat also ebenfalls Gefühle für mich.

Wir werden uns bald wieder sehen, meine Liebste, das verspreche ich dir. Sobald die Zeit reif ist, werde ich dir Nachricht geben.

In Liebe, Louis.

Enttäuscht schaue ich auf. Wieso will er mich nach so einem romantischen Brief nicht in seine Arme schließen? Wieso schlägt er kein Treffen vor? Ich muss ihn unbedingt sehen. Mein Herz macht es nicht mehr lange mit, von ihm getrennt zu sein. In der Schule lachen sie bereits über mich. Jeder glaubt, ich habe Louis nur erfunden. Doch denen werde ich es zeigen! Ich werde Louis überraschen.

Morgen ist Halloween. Was wäre ein besserer Anlass, um ihn zu besuchen? Ich werde mein Hexenkostüm anziehen. Das, was ich bei unserem ersten Treffen auch anhatte und werde ihn besuchen. Den Plan gefasst und mit dem Brief an meine Brust gepresst, gleite ich in einen unruhigen Schlaf.

Der Bus kommt mit quietschenden Reifen zum Stehen. Louis' Haus muss laut Google Maps ca. eineinhalb Stunden von hier entfernt liegen. Ich bezahle beim Busfahrer und lasse mich in eine der Sitzreihen plumpsen. Noch ein paar Stunden und dann bin ich endlich bei ihm. Keine Ahnung, was ich zu ihm sagen werde. Hi, hier bin ich, oder na, bist du überrascht? Egal, welchen Satz ich mir in meinem Inneren ausmale, alle klingen gleich bescheuert.

Während ich vor mich hin döse, überlege ich, wie es wohl in der Schule wäre, wenn Louis und ich Hand in Hand durch den Flur laufen würden. Vielleicht wird er sogar auf den Abiball Anfang nächsten Jahres mit mir gehen. Dann würden diese doofen Zicken ganz schön blöd gucken. Als ob ich es nötig hätte, zu lügen.

Der Bus tuckert gemütlich durch das Tal. Noch eine Haltestelle, dann muss ich aussteigen. Ich hole schnell meinen kleinen Schminkspiegel aus meiner Tasche und werfe einen Blick hinein. Genervt stelle ich fest, dass meine aufgemalten Spinnweben jetzt wohl an der Scheibe des Busses kleben. Mir bleibt leider keine Zeit, etwas Neues zu malen, also wische ich mir schnell den schwarzen Fleck von meiner Wange.

Mit starkem Bremsen kommt der Bus zum Stehen. Eilig schnappe ich meine Tasche und hechte aus der bereits geöffneten Tür nach draußen.

Ein kalter Wind weht mir entgegen. Es ist schon fast dunkel und zu meiner Verwunderung hängen lange Nebelfetzen über den Feldern. Komisch. Eben war doch noch das beste Wetter.

Der letzte Brief von dirWhere stories live. Discover now