Abschiedsbriefe und Beerdigungen

22 2 1
                                    

Es liegt ein Brief vor mir. Der Umschlag ist von sanftem Schwarz und bedeutet mir nichts Gutes. Es steht kein Absender darauf, nur mein Name in weißen, geschwungenen Buchstaben.
Ich kenne diese Handschrift. Um ehrlich zu sein habe ich solch einen Brief oder eine andere Nachricht schon länger erwartet. Ich habe gehofft, dass du mir erklären würdest, warum du das getan hast. Eine letzte Nachricht, die die Situation für mich verständlicher, wenn auch nicht weniger grausam macht.
Meine Hände zittern ein wenig, als ich nach dem Brief greife. Obwohl ich ihn erwartet habe, spüre ich dennoch Angst. Angst vor dem, was du mir zu sagen hast. Angst davor, in deiner Handschrift einen Beweis für meine Schuld zu lesen.
Mit einem leisen knistern öffne ich den Umschlag. Heraus ziehe ich ein weißes, etwas mitgenommenes Papier, es hat an Glanz und Festigkeit verloren. Stattdessen kennzeichnet eine Ecke ein dunkler Kaffeefleck und an einer Seite ist das Papier leicht eingerissen. Ganz zu Schweigen von den vielen knittrigen Falten, die auf einen ungemütlichen Umgang mit diesem Stück Papier hindeuten.
Das Blatt wurde zweimal gefaltet, um es dem Format des Umschlags anzupassen.
Ich falte es langsam auf, ich habe Angst deine letzten Worte zu zerstören, wenn ich zu hektisch bin. Womöglich sind das auch gar nicht deine letzten Worte. Vielleicht hat jeder deiner Bekannten einen solchen Brief erhalten und den meinen hast du nicht als letzten geschrieben. Trotzdem sind das, was ich in meinen Händen halte, deine letzten Worte an mich. Das macht sie ganz von selbst für mich zu deinen endgültig letzten Worten.
Ich schließe meine Augen und streiche das Papier glatt, ohne gesehen zu haben, was darauf steht. Ich habe das Gefühl, ich sollte deine Worte mehr schätzen. Irgendwie in mich aufsaugen und den Moment des Lesens unvergesslich werden lassen. Aber wenn man sich so etwas vornimmt, wird es doch sowieso niemals geschehen und so öffne ich mit einem schweren Atemzug letztendlich doch meine Augen.
Ich sehe auf das weiße Blatt Papier hinab, auf dem die zu lesenden Worte mit schwarzer Tinte geschrieben wurden. Deine Handschrift ist auf eine so einzigartige Weise geschwungen, dass ich sie überall erkennen würde. Dein Geschriebenes sieht wunderschön aus, sodass ich einige Sekunden brauche, um auch die Wörter zu erkennen, die deine Buchstaben bilden.
Du hast mir nur zwei Wörter hinterlassen.
Lebe Wohl.
Das ist alles.
Das l in Wohl ist in einem Tropfen Wasser verlaufen. Ich frage mich, ob das deine Tränen waren, oder doch nur ein ungeschickt gestoßenes Wasserglas.
Der Brief enthält keine Erklärung, keine Schuldzuweisungen und keine Erlösung meiner quälenden, fragenden Gedanken. Nur eine Verabschiedung.
Ich hätte es mir denken können. Du warst nie ein Mensch der vielen Worte. Ich kann mir vorstellen, wie du vor diesem Blatt Papier gesessen hast. Dein Schreibtisch unordentlich wie immer, das Wasserglas zwischen Stiften, Pinseln und Büchern auf der einzig freien Fläche abgestellt. Das abendliche, angenehme Licht der untergehenden Sonne erhellte die Bilder, die über deinem Schreibtisch hingen. Sie zeigten  deine Familie, deine Freunde, deine Zeichnungen und dich und mich, zusammen vor einem großen, blühenden Apfelbaum.
Ich sehe wieder auf deinen Brief hinab und ein unsäglicher Schmerz durchfährt mich. Du bist gegangen und lässt mir nicht einmal eine Erklärung zurück. Du hinterlässt mir gar nichts. Es schmerzt und gleichzeitig werde ich wütend.
Wütend auf dich, weil du mich allein gelassen hast und nichts weiter als zwei ernüchternde Worte übrig hattest. Wütend auf mich, weil ich dich gehen ließ und jetzt ganz allein bin. Und wütend auf diese Welt, die so grausam und trotzdem so schön sein kann, dass es mich ganz verwirrt und einsam zurücklässt.
Neben deinem Brief liegt noch ein anderer. Er ist ebenfalls schwarz, aber es steht ein Absender darauf und die Schrift ist nicht halb so elegant wie die deine. Diesen Brief reiße ich ohne große Rücksicht auf. Es ist mir egal, wie er aussieht, ich weiß sowieso schon, was dort drin steht.
Es ist eine Einladung zu deiner Beerdigung. Ich habe diesen Brief schon seit Tagen hier liegen lassen. Ich wollte ihn nicht öffnen, lesen, dass es wahr ist und die Beerdigung als endgültigen Termin in meinen Kalender schreiben. Als wäre das alles dann in Stein gemeißelt und wahrhaft real. Das war es natürlich schon zuvor.
Deine Beerdigung findet morgen statt, am Abend, zur selben Zeit, als wir uns treffen wollten. Der Termin steht noch in meinem Kalender, ich habe es nicht über mich gebracht ihn auszuradieren.

Ich nehme meinen schwarzen Mantel von der Garderobe und verlasse meine Wohnung. Es ist sehr kalt, aber der Himmel ist klar und die Sonne scheint auf mich herab, als wolle sie meiner Stimmung entgegenwirken.
Ich wollte zuerst gar nicht losgehen, mich dem endgültigen Abschied stellen und mit eigenen Augen sehen, wie du vom Wind davongetragen wirst.
Ich dachte immer, du wärst ein Mensch für einen dunklen Eichensarg mit feinen, verschnörkelten, rankenden Verzierungen an den Seiten. Aber scheinbar habe ich mich getäuscht. Du wolltest verbrannt werden und deine Asche vom Wind hinaus auf das Meer tragen lassen. Ich habe mich vermutlich oft getäuscht. Womöglich habe ich dich nie wirklich kennengelernt. Vielleicht hast du mir nie dein wahrhaftes Selbst offenbart.
Ich steige die Stufen zu der Strandpromenade hinauf, die zu den Klippen über dem Meer führen.
Trotz des klaren Himmels herrscht ein starker Wind in Meeresrichtung. Perfekt für deine Beerdigung, die eigentlich doch gar keine Beerdigung ist. Du wirst nicht unter Erde begraben.
Mein Haar wird durch den Wind zerzaust, aber ich habe mir sowieso keine große Mühe mit meiner Frisur gegeben. Hätte ich mich für dich so zurecht gemacht, hättest du mich wahrscheinlich sowieso nur ausgelacht.
Mein Mantel wärmt mich, während ich zu den anderen Personen trete, die schon etwas entfernt von der Klippe in Grüppchen zusammenstehen. Es sind viele Menschen zu deiner Beerdigung gekommen. Die meisten von ihnen kenne ich nicht. Ich wusste gar nicht, dass du so viele verschiedene Persönlichkeiten gekannt hast.
Ich schaue auf das Meer hinaus. Hohe Wellen brechen an der Klippe, auf der ich stehe. Als wollten sie das Land einreißen und sich den Weg frei machen. Gott weiß wohin.
Deine Beerdigung beginnt. Der Mann, der vorne aus scheinbar wichtigen Texten zitiert, hat einen bedauernden Gesichtsausdruck aufgesetzt. Er hat sicher viele Jahre Zeit gehabt um ihn zu perfektionieren.
Es fällt mir schwer ihm zu folgen. Meine Gedanken schweifen ab.
Ich höre zwei Plätze weiter eine ältere Dame in ihr Taschentuch schniefen und der Mann links vor mir tupft sich Tränen aus den Augenwinkeln. Wie viel du diesen Menschen wohl bedeutest? Und wie viel haben sie dir bedeutet?
Ich frage mich, wer sich um den Blumenschmuck bemüht hat. Es sind cremefarbene Rosen. Ich kann mich daran erinnern, wie du mir einmal erzählt hast, dass du Rosen hasst.
Ich wollte dir auch Blumen mitbringen, aber letztendlich halte ich nur eine einzige, weiße Lilie in meinen kalten Fingern. Ich denke, Lilien hast du gemocht. Aber ganz sicher bin ich mir nicht, über Blumen haben wir selten gesprochen.
Die Ansprachen sind zu Ende und ich lege meine Lilie zu den anderen Blumen. Sie sieht ein wenig einsam aus, aber ich finde das auf seltsame Weise angemessen.
Alle Gäste treten an die Klippe heran, sehen auf das tiefblaue Meer hinab und beobachten die Wellen, während deine Asche feierlich aus der Urne genommen und dann mit leichten Handbewegungen über dem Wasser verstreut wird. Der Wind reißt dich sogleich mit, trägt dich fort von mir und ich kann dir nicht lange mit meinen Augen folgen.
Wieder schnieft dieselbe Frau in ihr Tuch und der Mann wischt sich die Tränen fort. Ein kleines Kind fängt an zu schreien, aber vielleicht hat es auch bloß Hunger.
Deine Bekannten machen sich nach und nach auf den Weg zu einem kleinen Lokal, in dem gegessen wird. Ich bleibe stehen. Ich werde nichts essen. Ich lasse mich an der Klippe nieder, genieße den Wind, das Rauschen des Meeres, den leicht salzigen Geschmack in meinem Mund und stelle mir vor, wie du bei mir bist. Ich sehe dein verschwommenes Gesicht neben mir, beinahe spüre ich deine warmen Finger, wie sie sich um die meinen schließen und höre deine regelmäßigen Atemzüge.
Ich schließe meine Augen und atme tief die frische Luft ein.
Ein Abschied ist wohl doch unumgänglich.
Lebe wohl.

In Gedanken verlorenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt