,,Weißt du warum ich ihn nicht mehr Abi nenne?"

frage ich leise Bolat, dessen Kopf auf meiner Schulter liegt. Er summt fragend. ,,Abi werden nur die Menschen genannt, die auch die Rolle vom älteren Bruder genommen haben und es verdient haben." Atme zittrig aus. ,,Er hats nicht verdient." zische ich leise und wische wieder die Träne weg. ,,Er hat es nicht verdient Abi genannt zu werden von mir." Abi war weg. Er hatte die Rolle als großen Bruder aufgegeben. Er hatte es nicht geschafft die große Verantwortung zu übernehmen.
Er hat's nicht geschafft, aber das Kätzchen schon. Das kleine Kätzchen das auf den Straßen gewachsen ist. Auf den dunklen Straßen auf denen die großen Löwen waren. Auf den dunklen Straßen mit den Monsters. Das kleine Kätzchen hatte es trotz dessen geschafft die Rolle der älteren Schwester zu übernehmen und die große Verantwortung vor der sie sich nicht sicher war, ob sie es schaffen würde. Sie hatte Angst davor, aber sie hatte es geschafft.
Obwohl sie nur ein kleines Kätzchen war auf der jeder getreten hatte. Ist ja nur ein kleines Kätzchen.

Bolats Arme umarmen mich, doch meine Augen bleiben auf dem fixierten Punkt auf dem Boden. Die ganzen Momente von meinem jungen Ich laufen in Dauerschleife vor meinen Augen ab. Traurig. Traurig was für ein Leben ich hatte. Andere wachsen in teuren Häusern, mit ausreichendem Wasser und Strom, mit Eltern, die sie lieben. Mit vertrauensvollen Freunden, ohne Geldprobleme. Schmunzele. Geldproblem. Einer der Begriffe, die meine Kindheit beschreiben würde. Was ist dieses Geld? Was ist das, das mein Lebensbegleiter ist? Dieses beschissene Geld. Wie oft ich täglich nachschauen musste, ob das Geld reichen würde. Wie oft ich Sachen an der Kasse nicht kaufen konnte, weil dieses beschissene Geld nicht gereicht hätte. Es hatte immer meinen Kopf durchgenommen. In der Grundschule war ich im Fach Mathematik die Beste aus der ganzen Schule. Obwohl es mein Hassfach war. Ich habe dieses Fach nie gemocht, aber war darin gut. Sehr gut. Warum? Weil das kleine Mädchen jeden Tag Geld zählen musste für ihre Brüder. Für ihre Brüder. Weil sie als Abla es tun musste. Es war ihre Hauptaufgabe. Für ihre Brüder da zu sein, weil es zwei Erziehungsberechtige nicht geschafft haben. Zitternd streiche ich über Bolats Haare und erhebe mich, was er mir nachmacht. Besorgt mustert er mich und will mir eine weitere Träne wegstreichen, doch ich mache es zuvor.

Meine eigenen Tränen wische ich selber weg.

,,Hadi Bolat, geh du schon mal runter. Ich wasche mein Gesicht und komme gleich nach." Er will schon den Kopf schütteln, doch ich zwinge mich zu lächeln.
,,Los jetzt. Du hast bestimmt Hunger." Er atmet frustriert aus, doch nickt dann. ,,Ist gut. Komm aber schnell, Tamam?" Nicke. Er geht raus und ich lege meinen Kopf in den Nacken. Ich werde wütend. Warum genau jetzt? Ich werde wütend auf meine Eltern. Kleines Kätzchen von der Straße. Zucke mit dem Kopf und drehe meinen Kopf nach links, um in den länglichen Spiegel zu schauen. Leere grüne Augen schauen mich an. Hinter diesen leeren Augen, steckt eine grausame Geschichte von einem kleinen Mädchen, das sich alt fühlt. Ich bin zwanzig Jahre alt, doch fühle mich wie eine sechzig Jährige.
Dieses Leben hat mir vieles gezeigt, sehr vieles.
Gibt es noch etwas was ich nicht kenne? Werde ich vielleicht bald sterben, weil ich schon alles erlebt habe was man erleben kann? Ist mein Tod nahe?
Bewege mich auf den Spiegel zu und bleibe vor ihm stehen. Fasse durch den Spiegel meine Wangen an. Danach meine Augen, meine Haare, meinen Hals, meine Lippen. ,,Wer bist du?" frage ich zähneknirschend. ,,Wer bist du hm?" Weiß ich überhaupt wer ich bin? Wer wäre ich, wenn ich mit der Schule nicht abgebrochen hätte? Wer wäre ich wenn ich liebende Eltern hätte? Wer wäre ich wenn ich nicht so eine Kindheit und Jugend erlebt hätte?
,,Wer bist du?!" rufe ich schon und drücke meine Hände feste gegen den Spiegel. ,,Wer bist du hm?! Wer? Sag mich wer du bist!" Meine Stimme ist laut und hörbar.

Wer wäre ich?! Wer bin ich überhaupt?!

Durch die Wut, die durch meinen ganzen Körper fließt boxe ich einmal mit der rechten Hand gegen den Spiegel. Genau in mein Gesicht. Der Spiegel zerbricht laut in Teile und diese fallen auf den Boden. Atme angestrengt laut aus und schluchze einmal. Ich kann das nicht mehr. Ich kann das nicht mehr. Was ist nur los mit mir? Setze mich auf das Bett und höre schon wenige Sekunde später Schritte außerhalb des Zimmer. Bitte. Bitte sei Atakan! Rasch öffnet sich die Tür und ich atme erleichtert aus als ich in das dunkle Augenpaar schaue. Er ist da. Er ist genau in dem Moment da in dem ich ihn brauche. Erhebe mich und falle sofort in seine Arme, die mich sofort auffangen. ,,Efsane?" fragt er besorgt und ich drücke meine Nase gegen seine Brust, um mich in seinem Duft zu vergraben. Um mich zu beruhigen. ,,Was ist passiert?" Sage nichts. Reagiere nicht. Warte Atakan. Gib mir erstmal paar Minuten, um mich auszuruhen.

TURKISH MAFIAWhere stories live. Discover now