Die verschwundene Frau

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Die Sonne war gespalten. Ein Teil von ihr verbarg sich hinter den Mauern der Bibliothek. Das heiße Licht verbrannte ihr beinahe ihre Augen.
Vorsichtig hob sie die Hand, bedeckte ihre Stirn, so dass ein schmaler Schatten auf ihre Lider hinabfiel, schaute dennoch weiterhin durch das Glas hinaus auf die Straße.
Letzte Nacht träumte sie, sie sei ein Fisch, quer durch den Atlantik schwimmend. Das kühle Wasser fühlte sich wie ein Zuhause auf ihren Schuppen an. Und die Bewegungen der Wellen wie eine Umarmung.
Sie mochte das Gefühl, ein Teil von etwas zu sein. Sie glaubte dem Traum und seinen Geschichten. Sie glaubte an die Lügen, die das Rauschen des Atlantiks ihr zu flüsterte.
Aber vor allem wollte sie dran glauben.
Dann erwachte sie und wurde von der Realität am Kragen gepackt.
Das alles war nicht real.
Nicht einmal der wahre Wille davon ein echtes Leben zu führen, hätte sie vor der Enttäuschung ihrer Person bewahren können. Denn Jade hasste ihr Leben.
Sie hasste ihr Aussehen, die schmalen Lippen, die ausgetrocknete Haut einer Wüste und die dunklen Ringe unter ihren kalten Augen, die das gesamte Licht des Raumes einzufangen zu scheinen.
Sie hasste ihre Stimme und den Ton des erbärmlichen Flehens dahinter.
Jade hasste es, nicht mit ihrem Leben zufrieden zu sein und Träume mehr zu genießen als den Geruch von Büchern.
Jeder Teil dieser Bibliothek wollte sie loswerden. Die Regale hatten es satt, von ihr entstaubt zu werden und auch der Teppich unter ihren Hüften wollte ihr länger nicht mehr als Schlafplatz dienen.

Das war die traurige Wahrheit: Jade lebte in einer Bibliothek.
Sie litt an Agoraphobie.
Einer psychischen Angststörung, die laut Wikipedia und Millionen Psychiatern als Platzangst, bei der im Extremfall Opfer nicht mehr die eigene Wohnung verlassen können oder als Angst vor Kontrollverlust beschrieben wird, was absoluter Schwachsinn ist, weil Jade nie über irgendetwas in ihrem Leben Kontrolle besaß und daher keine Angst davor verspürte, diese zu verlieren.
Das ungünstige an ihrer Erkrankung war jedoch der Ort und Zeitpunkt. Jade befand sich am Tag ihres entscheidenen Zusammenbruchs zur falschen Zeit am falschen Ort.
Jedes Mal, wenn sie diesen Tag zurück in Erinnerung rief, lief ihr ein Schauer mit eiskalten Füßen über den Rücken.
Dienstags arbeitete sie wie jeden Tag sonst auch in der Bibliothek. Jade sortierte abgegebene Bücher ein, verbesserte die Ordnung und arbeitete ab und zu auch am Verleih.
Der Job war nicht der Beste, doch das war ihr egal. Sie verdiente genug Geld, um sich eine Wohnung, Kleidung, Essen und eine Beziehung leisten zu können.
Peppa und Jade waren seit ihrer Zeit in der Uni ein Paar. Peppa studierte Literatur und Kunst, während Jade an der selben Uni, in der selben Stadt Bibliotheksinformatik studierte.
Die beiden hatten nur einen Kurs zusammen, verbrachten aber trotzdem mehr Zeit mit einander, als sie es mit irgendwen sonst taten.
Peppa war nicht nur wunderschön mit ihren roten, langen Wellen, sondern auch unfassbar klug und inspirierend.
Sie wollte unbedingt jemand sein, etwas aus ihrem Leben machen und Spuren hinterlassen. Nicht nur das, sie wollte verstorbene Sterne wieder zum Strahlen bringen.
Peppa war selber ein Stern. Nur wusste sie das nicht. Sie glaubte, der einzige Weg, um etwas zu erreichen sei durch harte Arbeit und Kontakte, woher sollte sie auch wissen, dass sie mit ihrer Schönheit allen, denen sie begegnete bereits in Erinnerung blieb? Jade nie wirklich verstanden, warum Peppa sie gewählt hatte. Von allen sechs Milliarden Menschen auf diesen Planeten hatte Jade mit Abstand die deprimierendste Persönlichkeit.
Peppa war ein Schmetterling und sie nur eine dunkle Motte. Sie lebten nicht einmal zur selben Zeit.
Wenn Jade mit Peppa zusammen war, fühlte sie sich wie Dorothy im Lande Oz.
Der Zauberer von Oz war ihr liebstes Buch ihrer Kindheit gewesen. Jade liebte die Idee davon, dass es irgendwo dort draußen eine bessere, schönere und glücklichere Welt gab, als die ihre voller Terroristen, Klimawandel und Pandemien.
Bis zu diesem einen Dienstagabend lebte sie in Oz.
Jade war so sehr damit beschäftigt das Glück zu genießen, dass sie ganz vergaß in welchem Universum sie sich befand.
Das Leben war nicht gerecht. Menschen starben an Krebs, verunglückten in tragischen Autounfällen und wurden hintergangen.
Dieser Abend hatte alles zerstört. Sie hatte alles zerstört.
Die dunklen Wolken am Himmel, die das Rot der Abendsonne bedeckten, hätten Jade als Warnung reichen sollen.
Sie hätte es wissen sollen.
In drei Tagen hätte Peppa Geburtstag gehabt. Jade hatte vor, ihr ein Geschenk zu bereiten, das ihre Frau wirklich berühren würde. Eine Reise nach Paris.
Jade gab das Passwort für den Computer ihrer Frau ein - den Tag ihrer Hochzeit, sowie ihren Namen - öffnete den Kalender und sah nach einem günstigen Tag.
Doch dann ertönte dieser Ton. Der Ton einer erhaltenen E-Mail. Der nur gut bekannte Ton einer Nachricht.
Emma, las Jade. Sie wollte gar nicht hinsehen, doch die kleine Mitteilung tauchte einfach auf dem Display auf.
Emma, wie Jane Austens Emma, Emma wie Jades Schwester Emma, Emma wie die Hexe aus Oz.
Ein Klick auf die Nachricht, ein Hauch von zu viel Neugier reichte aus, um alles zu zerstören.
Jede Farbe, jeder Klang des Liedes, jedes Foto und jedes Lächeln zerfiel zu Asche.
Emma.
Emma arbeitete wie Peppa im Theater.
Emma war schön, fröhlich und der Klang von Musik in Person. Emma war wie Peppa ein Schmetterling.
Nicht wie Jade, eine Motte.
Emma konnte im hellen Licht fliegen und fraß nicht alles auf, was ihr in die Quere kam.
Emma war besser als Jade.
Emma war fröhlich.
Jade schaltete den Computer aus. Ihr Blick fiel auf den Notizzettel, auf den sie sich das geplante Datum für ihre Reise nach Frankreich notiert hatte.
Sie empfand keine Traurigkeit über den Betrug. Nicht einmal Wut. Davor hatte sie Peppa zu sehr geliebt. Jade würde sie niemals hassen können.
Da stand sie also. Alleine, als einzige in einer Bibliothek, die sie abschließen sollte.
Sie starrte aus dem Fenster hinaus, betrachtete die Wolken und merkte in ihrer Verzweiflung überhaupt nicht, dass sie aufgehört hatte zu atmen.
Sie traute sich nicht zu atmen, bis ihre Lungen zu brennen begannen. Panisch spaltete Jade ihre Lippen, lies den Sauerstoff zurück in ihren Körper. Ihre Hand lag auf der Brust, versuchte ihren Körper zu beruhigen, doch dafür war es bereits zu spät gewesen.
So lange hatte sie keine Panikattacke mehr gehabt. So lange, dass Jade ganz vergessen hatte, wie schlimm sie sich anfühlten.
Wäre sie doch nur erstickt.
Ihr Herz pochte so sehr, das Jade glaubte, jede Sekunde würde es ihr aus der Brust springen.

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