Kapitel 2

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Es dauerte eine ganze Weile, bis man mir ein Zimmer zuwies. In dieser Zeit wurde ich untersucht, geröntgt und mit Fragen bombardiert, was geschehen und wie ich zum Krankenhaus gelangt war. Ein Teil meines Verstandes schien schon zu schlafen, aber er war trotzdem zu einer einfachen Lüge imstande. Ich erzählte dem Arzt, dass ein PKW mich angefahren und Fahrerflucht begangen hatte. Das erklärte nicht, wie ich hierhergekommen war, also hielt ich mich in dieser Hinsicht an die Wahrheit – ein netter Mann hatte mich getragen und sich dann rasch verabschiedet.

Meine Geschichte konnte niemand widerlegen, auch wenn sie mir ein paar irritierte Blicke einbrachte. Das war ich schon gewohnt, denn immerhin übte ich schon ein ganzes Jahr lang, meine seltsamen Reaktionen auf der Straße möglichst plausibel zu erklären. Der Schrecken tat sein Übriges und sorgte dafür, dass es mir egal war, ob meine Geschichte plausibel klang. Ich würde die letzten Lücken stopfen müssen, wenn ich morgen mit der Polizei sprach. Nach meinem Telefonat mit Dad war klar, dass kein Weg daran vorbeiführte, Anzeige zu erstatten.

Es tat mir leid, ihm das anzutun. Der Gedanke an meinen Vater war das Einzige, das mich noch einmal aus dem Nebel der Müdigkeit befreite. Die Infusion mit Schmerzmitteln machte mich angenehm wattig, doch ich fürchtete die Ruhe. Im Krankenhaus war an Schlaf kaum zu denken. Dafür gab es hier einfach zu viele Geister. Der Blick auf den kahlen Flur war sogar noch schlimmer, denn er holte alles wieder hoch, gegen das ich schon so lange kämpfte. Den Schmerz über Mums Verlust. Die Sehnsucht. Meine Reue, als Einzige überlebt zu haben.

Ich erinnerte mich nicht mehr daran, wie lange ich nach dem Autounfall hier gewesen war. Ich wusste nur, dass ich nie schlimmere Momente erlebt hatte. Dieses Mal hatte ich zumindest Glück gehabt und durfte voraussichtlich morgen nach Hause. Mein Bein pochte gegen den Gips, weil es tatsächlich gebrochen war, und zwei meiner Rippen waren schwer geprellt. Ich konnte mir ausmalen, wie mein Vater sich fühlen musste, nachdem er mich fast schon wieder verloren hatte – ausgerechnet an ein Auto. Mir war einfach keine bessere Ausrede eingefallen. Es würde noch etwas dauern, bis er hier ankam. Bis dahin fürchtete ich den Blick in seine Augen und hoffte, dass er nicht genauso schlimm wäre wie damals.

In der stillen Einsamkeit des Krankenzimmers versuchte ich, nicht verrückt zu werden. Alles war so viel. Was heute geschehen war, fühlte sich an wie das düsterste Kapitel meines Lebens. In all den Monaten war es mir immer gelungen, den gefährlichen Geistern auszuweichen. Ich hatte mich versteckt, sobald ich geglaubt hatte, sie wahrzunehmen. Dennoch wäre ich heute beinahe gestorben. Ich hätte mir fast einbilden können, der Tod hatte es auf mich abgesehen. Ich war trotz des Unfalls noch auf dieser Welt, im Gegensatz zu Mum, und nun floh ich vor Gestalten, die mich unweigerlich fressen wollten. Es war besser, nicht in diese Richtung zu denken. Die Traumatherapie hatte mir beigebracht, zu akzeptieren, anstatt mich zu wehren. Böse Geister waren damit allerdings wohl nicht gemeint gewesen.

Ich wusste nicht, was ich jetzt machen sollte. Wie sollte ich jemals wieder von der Arbeit nach Hause gehen, ohne einen Angriff zu erwarten? Ich konnte nicht damit aufhören, an den raupenartigen Geist zu denken. Wann immer ich die Augen schloss, sah ich seinen langen Körper und sein erstarrtes Gesicht, dessen leere Augenhöhlen mich fixierten. Ein lebendig gewordener Albtraum, dem ich heute Nacht gegenübergestanden hatte. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass meine Fähigkeit irgendwann verschwand. Oder, dass ich eines Tages lernte, den Geistern aus dem Weg zu gehen.

Während ich meinen Gedanken nachhing, döste ich ein. Der Gips verbot mir, auf der Seite zu liegen, also sank ich in die Kissen und mein Kopf auf meine Schulter. Ein kurzer Moment absoluter Ruhe, in dem sich alles friedlich anfühlte. Ich träumte davon, mit Dad zu reden und mit meiner Freundin Phoebe, die mich im Krankenhaus besuchten. Die gelöste Atmosphäre wandelte sich jedoch schnell, denn wir waren nicht allein. Das düstere Monster von vorhin lauerte direkt über uns. Es hing an der Decke, die winzigen Beine in die Mauer geschlagen, und reckte seinen übergroßen Hals langsam in meine Richtung.

Black Dawn - Schatten des WendigosWhere stories live. Discover now