10 - Die Schlossbibliothek

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Mit einem unterdrückten Seufzen ließ ich mich auf einem historischen Sofa mit gesprungenem Lederbezug nieder, froh, dem Trubel und der zunehmenden Hitze draußen entkommen zu sein. Die Bibliothek war angenehm kühl und hatte den magischen Charme einer Zeitkapsel. „Puh. Endlich ein Ort, an dem ich klar denken kann. Hat einer von euch eine Idee, wie wir diesen Job angehen sollen, jetzt wo die Polizei das ganze Ufer absperren lässt?"

„Wir wissen immer noch nicht, ob es tatsächlich eine Verbindung zwischen den Raben und dem Licht in der Hütte gibt." Matt ließ sich in einen riesigen Armsessel fallen und rieb an einem der zahlreichen Schmutzflecken auf seiner Hose. Natürlich machte er diesen dadurch nur schlimmer, aber das schien ihn nicht weiter zu stören.

Theo trat an ein Fenster und öffnete die Läden, um mehr Licht in den Raum zu lassen. Fasziniert beobachtete ich die tanzenden Staubkörner im hellen Sonnenlicht. Es vertrieb die muffige Dunkelheit und munterte meine Stimmung auf.

Für einen langen Moment blieb Theo am Fenster stehen und blickte zum See hinunter, seine Silhouette ein schwarzer Umriss gegen die Helligkeit draußen. Dann zuckte er die Schultern und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen, die Augen halb geschlossen und den Kopf leicht schräg gelegt, als würde er einem entfernten Geräusch lauschen. „Da unten in dem Haus am See ist jemand. Ich spüre ihre Verzweiflung. Und ich bin mir sicher, dass die Raben nicht zufällig gleichzeitig aufgetaucht sind, wie das Wasser diese Ruinen freigab."

„Mit jemand meinst du einen Geist." Ich formulierte es nicht als Frage. Verglichen mit Theo war meine Empfindlichkeit für paranormale Phänomene rudimentär und irrtumsanfällig. „Also müssen wir diesen Ort doch zwingend untersuchen. Sobald als möglich."

Ich hielt inne, um meine Optionen zu hinterfragen. Sollte ich meinen kleinen Trumpf bereits preisgeben? Aber wir konnten nur gewinnen, wenn wir das anstehende Problem als Team angingen. Was hatte ich schon groß zu verlieren? Ich holte tief Atem. „Vielleicht gibt es einen Weg, zu dem Haus zu kommen. Ich könnte eine Freundin anrufen. Sie ist Mitglied im Segelclub von Avry, auf der anderen Seite des Sees. Ich bin sicher, dass sie ein geeignetes Boot besitzen."

Eine Falte formte sich auf Matts Stirn. „Ein Segelboot? Sind die nicht ziemlich kompliziert zu bedienen?"

„Soviel ich weiß, schon. Nein, ich meine natürlich ein Motorboot. Der Klub organisiert Trainings für Kinder und Segelrennen oder wie das heißt, Regatten. Die haben bestimmt eines von diesen aufblasbaren Dingern. Damit müsste man relativ nahe ans Ufer fahren können." Zumindest hoffte ich das, und auch, dass meine Freundin Stefanie mir das Boot leihen würde.

Matts Augen leuchteten auf und Theo unterbrach seine Wanderung durch die Bibliothek. Aber wir kamen nicht dazu, an meinem rudimentären Plan weiter zu schmieden. Als das Klicken des Türschlosses einen Besucher ankündigte, verstummten wir alle wie schuldbewusste Kinder, die von den Eltern bei einer Ungezogenheit erwischt wurden.

Louis hatte Zeit gefunden, sein T-shirt zu wechseln. Das neue war schwarz mit einem wilden Ethno-Dekor. Wohl australisch, anhand der zahlreichen erdfarbenen Punkte zu urteilen, und in meinen Augen eindeutig ein Fortschritt gegenüber dem Batik-Look.

Er blieb neben dem Sofa stehen. „Es tut mir leid, Euch zu stören, aber ich bin echt besorgt wegen der Feier heute Abend. Was ist wenn die Gespenster diese Gelegenheit ausnutzen und die Gäste attackieren? Ich kann mir da kein zusätzliches Desaster leisten."

Ich stellte mir vor, wie ein Volk verärgerter Raben sich kreischend auf die ahnungslosen Touristen stürzte, und verkniff mir ein Grinsen. „Warum serviert ihr das Essen nicht drinnen? Im Rittersaal sollten deine Gäste vor unerwarteten Luftangriffen der dritten Art geschützt sein."

„Bist du sicher, dass das funktioniert?" Unser Gastgeber schien skeptisch zu sein und blickte hilfesuchend zu Theo, der sich im hinteren, düsteren Teil der Bibliothek gegen ein Gestell lehnte. Seine schwarz-gekleidete Gestalt verschwamm fast mit den Schatten.

Er kreuzte die Arme. „Haben die Raben jemals drinnen angegriffen? Oder habt ihr in irgendeinem Raum Spuren von ihren Exkrementen gefunden?"

Louis schüttelte den Kopf. „Nein, nicht soviel ich weiß. Aber mit dem anhaltend schönen Wetter brauchen wir die Innenräume diesen Sommer ausgesprochen selten."

Ich zuckte die Schultern. „Dann solltest Du es versuchen. Wir können nicht sicher sein, aber es scheint zumindest weniger riskant als der Hof."

„Genau. Und ich könnte im Saal einige meiner experimentellen Geistersensoren installieren." Matt strahlte wie ein Fünfjähriger an seinem Geburtstag. „Sie sollen Spuren von Ektoplasma registrieren, wenn ein Geist manifestiert. Aber ich konnte sie bisher nie in einer hundertprozentig heimgesuchten Umgebung testen. Ich meine, echte Spukschlösser sind heutzutage selten."

Louis rieb sich nachdenklich den Bart. „Ich müsste mit dieser orange-geblümten Glucke sprechen. Sie scheint ziemlich schwer umzustimmen, wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hat."

Ich unterdrückte ein Kichern. „Sag dem Drachen einfach, es sei abends kühler drinnen, weil der Hof noch bis spät die Hitze des Tages speichere. Und vielleicht, dass es ein besonderes Privileg sei, den historischen Saal benutzen zu dürfen."

„Gute Idee." Ein fröhliches Funkeln blitzte in seinen grauen Augen auf. Aber gleich darauf wurde er wieder ernst, richtete sich auf und ging zur Tür. Die Hand auf der Klinke blieb er stehen und blickte über die Schulter zurück. „Unten in Café steht ein Imbiss für euch bereit. Und ich würde es wirklich schätzen, wenn ihr mir helft, den Rittersaal für heute Abend geistersicher zu machen."

„Versprochen. Gibt es schon Neuigkeiten von Roberto?" Ich wusste nicht, weshalb mir dies so wichtig schien. Der Journalist und ich waren nicht gerade auf dem besten Fuß gestartet.

„Nein, aber ich kann später im Spital anrufen. Ich bezweifle, dass sie jetzt schon mehr wissen, das Ganze ist erst eine Stunde her."

Louis hatte natürlich recht. Ich würde mich in Geduld üben müssen. „Stimmt. Irgendwie scheint es mir schon eine Ewigkeit. Wir schauen uns den Rittersaal nach dem Essen mal an. Ich habe auf jeden Fall gestern dort keine Geister gespürt. Oder was meinst du, Theo?"

Der Gefragte schloss kurz die Augen. „Nein, ich konnte nichts Außergewöhnliches feststellen. Aber wir können das gerne genauer untersuchen und Matt mit den Sensoren helfen. Ich bin gespannt, wie sowas funktioniert."

Louis lächelte beruhigt. „Danke, ich weiß euren Einsatz zu schätzen. Diese Party muss einfach ein Erfolg werden."

Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, fragte ich mich, ob er mit dieser Äußerung nicht geradezu ein Unglück heraufbeschwor.

Der Erbe des Raben | Wattys 2022 GewinnerWhere stories live. Discover now