Als Annalena am nächsten Morgen aufwachte, nahm sie mehrere Dinge gleichzeitig wahr. Erstens: Ihre Nase war dicht, was das Atmen deutlich erschwerte. Zweitens: Sie hatte furchtbare Kopfschmerzen. Drittens: Jemand lag hinter ihr. Letzteres brachte sie dazu, ihre Augen schlagartig aufzureißen. Das half ihr natürlich erstmal nicht wirklich weiter, da die Person sich ja hinter ihr befand. Angestrengt dachte sie nach, versuchte sich an den vergangenen Abend zu erinnern. Wo war sie überhaupt? Auf jeden Fall nicht in ihrem Schlafzimmer. Vorsichtig drehte Annalena sich auf den Rücken, drehte dann ihren Kopf zur Seite und erblickte: Robert. „Oh gott“, entfuhr es ihr leise. Entsetzt starrte sie nach oben. Dann griff sie hastig nach der Bettdecke, hob sie an und erkannte beruhigt, dass sie noch ihre Klamotten trug. Wobei, genauer gesagt trug sie nicht ihre Klamotten, sondern eine zu große Jogginghose und ein locker geschnittenes Tshirt. Anscheinend von Robert. Sie wagte einen erneuten Blick zu ihm und erkannte, dass sie ihn mit ihrer Handlung offenbar geweckt hatte.
Als er sie durch seine verwuschelten Haarsträhnen, mit noch halb geschlossenen Augen, anblinzelte, konnte sie nicht anders, als zu Lächeln. So starrten sie sich einige Momente an, bis Annalena sich schlagartig von seinen blauen Augen losriss. „Was, ähm, also wie“, stammelte sie fragend, den Blick nun wieder starr nach oben an die Zimmerdecke gerichtet. Robert räusperte sich. „Dir ging's gestern Abend echt nicht gut, deshalb haben wir die Verhandlungen irgendwann abgebrochen. Und äh ja, ich wollt dich in dem Zustand ungern alleine lassen.“ Sie nickte, langsam kehrten ihre Erinnerungen zurück. Und damit leider auch die Tatsache, dass sie es gewesen war, die ihn förmlich angefleht hatte, sie nicht alleine zu lassen. Peinlich berührt merkte sie, wie ihr Gesicht sich, bei dem Gedanken daran, rot verfärbte. Egal, das konnte sie immer noch auf das Fieber schieben. Erhöhte Temperatur war es allemal. „Wie geht's dir denn jetzt?“, hörte sie dann Roberts besorgte Stimme. „Naja, könnte besser sein. Aber… Das geht schon.“ Er jedoch schüttelte den Kopf. „So lass ich dich ganz bestimmt nicht aus'm Haus. Hab gestern mit den anderen abgemacht, dass wir mal 'nen Tag Pause einlegen“, widersprach er ihr.
Annalena gab es nur ungern zu, aber sie war erleichtert. Und dankbar. Womit hatte sie seine ganze, fürsorgliche Art eigentlich verdient? Sie wusste es nicht. Und sie wusste auch nicht, wie sie all das jemals wieder gut machen sollte. Vorsichtig drehte sie ihren Kopf wieder in seine Richtung. Es war nicht das erste Mal, dass ihre Blicke sich wie magisch anzogen und keiner der beiden wegsehen konnte oder wollte. Aber hier, nebeneinander in seinem Bett liegend, war es doch noch mal was anderes. Sie spürte, wie Robert millimeterweise wieder näher an sie heran rückte. Sie hielt den Atem an- was sich als nicht so gute Idee herausstellte. Gerade noch rechtzeitig schaffte sie es, sich wegzudrehen, ehe ein Hustenanfall sie schüttelte. Robert setzte sich auf und half ihr dann, ebenfalls in eine sitzende Position zu kommen. Verzweifelt versuchte Annalena den Husten zu unterdrücken, was es allerdings nur noch schlimmer machte. Als sie irgendwann endlich wieder normal atmen konnte, erhob Robert sich. „Ich kann verstehen, wenn du lieber in deine Wohnung möchtest, aber...“, begann er zögernd. „Ich denke es wäre gut, wenn du nicht alleine bist. Was ist mit Daniel?“
Annalena seufzte. Schwieriges Thema. „Naja. Ich, ähm, nein. Das wollt ich dir schon die ganze Zeit sagen, aber ich dachte ich warte, bis das alles vorbei ist“, antwortete sie. „Wir haben uns jetzt endgültig getrennt.“ Robert sah sie mitfühlend an. Dann schüttelte er seinen Kopf, als wolle er einen unliebsamen Gedanken vertreiben. „Du kannst natürlich auch hier bleiben, also nur wenn du magst.“ Unsicher wand er den Blick ab. „Wirklich? Das wäre… Danke. Wirklich. Das ist alles nicht selbstverständlich und… Du bist mir so eine große Hilfe“, sagte sie. Er antwortete lediglich mit seinem Lächeln- wenn es nach Annalena ging, war dies das Schönste an ihm. „Ich müsste dich allerdings doch kurz alleine lassen, weil ich glaub mein Kühlschrank sieht sehr bescheiden aus. Gestern früh hab ich Müsli mit Wasser gegessen. Ohne Scheiß.“ Annalena lachte heiser. „Wenn du eh nochmal los musst, könntest du dann auch noch einen Abstecher zu meiner Wohnung machen und mir ein paar Sachen holen?“ Robert nickte, griff dann nach einer Jeans und verschwand im Flur. Kurz darauf hörte sie im Badezimmer Wasser rauschen und schließlich die Wohnungstür zufallen.
Sie wusste nicht genau wann, aber irgendwann musste sie wohl wieder eingeschlafen sein. Auf jeden Fall erwachte sie davon, dass Robert zurückkehrte. Müde streckte sie sich und gähnte. Dann setzte sie sich auf und erhob sich in Zeitlupe, immerhin wollte sie dem Schwindel aus dem Weg gehen. Verschlafen tappte sie zur Tür, öffnete diese und betrat die offene Küche. Robert stand gerade vor dem Kühlschrank und sortierte die Einkäufe ein. „Na, wie geht's dir?“, fragte er, sobald er sie bemerkte. Annalena zuckte mit den Schultern. Suchend blickte sie sich um, Robert schien ihre Gedanken wieder einmal lesen zu können und griff nach einer Tasche. Er reichte sie ihr, sie bedankte sich noch einmal und ging dann erstmal ins Bad. Nach einer kurzen Katzenwäsche öffnete sie die Tasche. Robert hatte tatsächlich an alles gedacht: ihr Ladekabel, der Laptop und Klamotten befanden sich in ihr. Als sie kurz darauf in die Küche zurückkehrte, war Robert mittlerweile dabei, Frühstück zu machen. Als er sie sah, schickte er sie jedoch mit einem bösen Blick zurück ins Bett. Annalena nahm dieses Angebot nur gerne an und kuschelte sich wieder unter die Bettdecke. Einige Minuten später kehrte auch er zurück, brachte ihr einen Tee, ein Glas Wasser und Obst.
Annalena war gerührt. Er kümmerte sich so aufopferungsvoll um sie und sie wusste wirklich nicht, womit sie das verdient hatte. Ehrlicherweise hätte er jeden Grund, sauer auf sie zu sein. Immerhin hatte er ebenfalls Kanzlerkandidat werden wollen und eigentlich wäre es nur fair gewesen, wenn er den Posten bekommen hätte. Er war älter, erfahrener. Wahrscheinlich hätte er auch weniger Fehler gemacht, vielleicht hätte er es sogar geschafft. Wieder einmal stoppte Annalena sich selbst, diese Gedanken änderten jetzt auch nichts mehr. Abwesend, wie sie gewesen war, hatte sie nicht bemerkt, dass er sich neben sie gesetzt hatte. „Kommst du klar damit?“, fragte er sanft und sie wusste natürlich sofort, worauf er anspielte. Sie nickte. „Es war… Mehr oder weniger eine gemeinsame Entscheidung. Es war… Es lief schon lange nicht mehr. Ich wollte es mir nicht eingestehen. Daniel war so lange Teil meines Lebens, ich wollte nicht wahrhaben, dass dies sich ändern könnte. Es war wahrscheinlich besser so, als wenn es irgendwann unehrlich geworden wäre.“ Annalena war erstaunt wie gut es tat, all das endlich einmal auszusprechen. Selbstverständlich gab es einige Personen, die von der Trennung wussten, die Kinder zum Beispiel, oder Annalenas Eltern. Aber mit denen hatte sie natürlich nicht so darüber geredet.
Robert nickte nur verständnisvoll. Wieder etwas, was Annalena an ihm liebte. Sie brauchten nie viele Worte, um einander zu verstehen. Oft hatte sie sogar das Gefühl, genau zu wissen, was er dachte. Und andersherum war es ja genauso, er hatte schon unzählige Male genau das getan, was sie sich in dem Moment gewünscht hatte. Oder ihr auf eine unausgesprochene Frage geantwortet. Nie hatte es ernsthafte Schwierigkeiten zwischen ihnen gegeben, nicht vor dem Wahlkampf, nicht mit der Wahl des Kanzlerkandidaten, nicht nach dem Wahlergebnis. Sie hätte es verstanden, wenn er sauer auf sie gewesen wäre. Immerhin war sie es, die es verkackt hatte. Vermutlich konnte er seine Gefühle einfach nur besser verstecken als sie selbst, anders konnte sie es sich nicht erklären. Oder auch jetzt, jede:r andere hätte ihr Vorwürfe gemacht, dass sie die Verhandlungen aufhielt. Er nicht. Und dafür war sie ihm unendlich dankbar. Während sie nun also ihren Tee schlürfte, sah sie immer wieder kurz zu ihm. Sie kam sich, wie schon so oft, vor wie im falschen Film.
Wie konnte es sein, dass er immer, egal wieviel sie falsch machte, zu ihr stand? Annalena wusste, sie selbst war oft etwas verurteilend, auch wenn sie es im Endeffekt nie so meinte. Zumindest nicht ihm gegenüber. Und obwohl die Medien Robert mittlerweile als ein wenig jähzornig bezeichneten, gut im Bezug auf die Koalitionsverhandlungen stimmte das auch, zeigte er ihr dieses nie. Manchmal, wenn er mit Lindner diskutierte, merkte man es. Auch innerhalb der Partei konnte er schon mal lauter werden, aber nie zeigte sich irgendeine Form des Zornes gegen sie. Wenn sie länger darüber nachdachte, war das echt erstaunlich, schließlich arbeiteten sie nun schon seit mehreren Jahren zusammen. Nachdenklich ließ Annalena ihren Blick von dem dampfenden Tee wieder zu ihrem Kollegen wandern. Kollege war eigentlich nicht der richtige Begriff, aber Freunde waren sie irgendwie auch nicht. Also schon, aber auf eine seltsame Art und Weise.
