Tatsächlich zeigt sie dann auch, was sie kann. Denn kaum sind wir in ihrem Büro, ist sie wie ausgewechselt. Ihr Ausdruck ernst und abwartend.
Sie hört sich meine Ideen und Fragen geduldig an und kann diese sogar aus dem Stegreif beantworten. Kalkulationen berechnet sie frei aus dem Kopf und kann mir damit umgehend sagen, ob die Angebote für mich lukrativ sind oder nicht. Dafür braucht sie weder Stift und Papier, noch einen Taschenrechner. Das beeindruckt mich tatsächlich und ich begreife langsam, was für ein Genie sich in ihrem tiefen Inneren verbirgt. Nicht ohne Grund hat sie ihr Studium vorzeitig beenden und an der Börse Erfolge feiern können. Es aber mit eigenen Augen zu sehen, ist etwas anderes, als es nur vom Hören-Sagen zu erfahren.
Ich bin fasziniert davon, wie seriös und erwachsen sie gerade vor mir sitzt. Als ich sie das letzte Mal sah, waren wir auf der Gründungsfeier ihrer Bank. Mit zunehmendem Konsum von Alkohol stieg natürlich auch die Stimmung. Insbesondere sie war dabei sehr auffällig - nicht nur wegen ihres Outfits und all den Tattoos, sondern auch wegen ihrer Art.
Ihr außerordentlicher Charme umwarb jeden einzelnen, ohne dass sie dafür viel tun musste. Ein Lächeln, ein Zwinkern, vielleicht eine leichte Geste oder Berührung. Sie wusste mit ihren Reizen zu spielen und sie einzusetzen.
Unterhalten haben wir uns an diesem Abend kaum, weil sie viel zu beschäftigt war, aber unsere Blicke haben sich sehr oft getroffen und ich kann bis heute nicht einschätzen, auf welche Art und Weise sie mich angesehen hat.
Jetzt aber sitzt eine Frau vor mir, die kein bisschen ihren Charme spielen lässt oder mir sonderbare Blicke schenkt. Sie ist vollends auf das Geschäft fokussiert. Beeindruckend.

»Kann ich sonst noch etwas für dich tun?«, fragt sie, als wir mit unserem Gespräch fertig sind und alles geklärt haben.
»Das kannst du tatsächlich«, gebe ich nach einem Moment des Überlegens von mir und lächle sie an.
»Okay, möchtest du auch über deine privaten Anlagen reden?« Sie hält inne, als sie mir die Tür öffnen will, um mich aus ihrem Büro zu führen.
Wortlos schüttle ich den Kopf. »Eher dachte ich daran, zu fragen, ob du mir ein wenig New York zeigen würdest?«, frage ich. »Sofern du die Zeit hast.«
»Ich soll dir New York zeigen?« Überrascht sieht sie mich an. »Du willst privat Zeit mit mir verbringen?«, fragt sie und schon kehrt wieder dieses freche Grinsen in ihr Gesicht zurück.
»Wieso denn nicht?«, entgegne ich überrascht. »Ich habe Zeit und nichts zu tun, und du kennst dich hier aus.«
Sie schweigt einen Moment und sieht mir intensiv in die Augen. Sie nähert sich mir sogar ein wenig, und ich spüre den Kloß in meinem Hals, als ich ihn hinunterschlucken will.
Ihre ganze Erscheinung, die sich plötzlich wieder verändert hat, verhindert, mich bewegen zu können.
»Wie viel Zeit hast du denn?«, fragt sie in einem sonderbaren Ton.
»Vierundzwanzig Stunden.«
»Gut«, spricht sie grinsend und distanziert sich wieder von mir. »Die Zeit werden wir auch brauchen«, fügt sie noch frech hinzu und blickt dann auf die Uhr an ihrem rechten Handgelenk. »Gib mir eine Stunde«, sagt sie und zückt ihr Handy, in das sie etwas hineintippt.
»Holst du mich ab?«, frage ich lieblich. »Würde mir gerne etwas anziehen, das besser für die Freizeit geeignet ist«, begründe ich und deute an mir hinab.
»Welches Hotel?«
»Das Mandarin Oriental am Central Park.«
»Du lässt dir deine Arbeit gut bezahlen, huh?« Sie grinst und stimmt mir schließlich zu, mich dort in einer Stunde abzuholen, während sie mich aus ihrem Büro entlässt und bis zur Eingangstür begleitet.

Fast dreißig Minuten brauchte ich schon für die Rückfahrt zum Hotel. Entsprechend beeile ich mich mit dem Umziehen und zurecht machen. Und kaum, dass ich den letzten Strich über meine Lippen ziehe, klopft es an meine Hotelzimmertür.
Frech wandert Morgans Blick über meinen Körper, der sich nun in legerer und bequemer Kleidung befindet.
Aber auch sie strahlt nun eine ganz andere Wirkung aus, und trägt das, was ich an ihr kenne. Schwarz, rebellisch, frech. Die Haare offen und leicht gewellt. Ihre grünen Augen mit dunklem Lidschatten und Kajal hervorgehoben. Die Brille wurde verbannt und vermutlich durch Kontaktlinsen ersetzt.

Zunächst spaziert sie mit mir durch den Central Park und zeigt mir so manche Orte und Denkmäler. Wobei diese kleine, private Stadtrundführung nicht unbedingt eine solche ist. Denn vielmehr sind wir mit unserer Unterhaltung beschäftigt, während wir die Plätze eher nur beiläufig bemerken.
Viel über sich erzählt Morgan nicht, fragt mich hingegen aber ausgesprochen viel und ich rede. Zu meinen Erzählungen sagt sie im Grunde nicht wirklich viel, nutzt dafür jede erdenkliche Möglichkeit, um mit mir zu flirten. Zumindest legt sie ihren frechen Gesichtsausdruck äußerst selten ab.
Weitestgehend versuche ich, diese Eigenschaft an ihr zu ignorieren; nicht immer gelingt es mir und manchmal schafft sie es sogar, mich in Verlegenheit zu bringen.
Als wir den Central Park verlassen, ist bereits die Dämmerung eingetreten. Unser Weg führt uns entlang des Broadways zum Times Square, bis wir das Empire State Building erreichen.
»Bei Dunkelheit sieht es am schönsten aus«, verspricht sie, während wir den Aufzug bis in die oberste Etage zur Aussichtsplattform fahren.
Und sie hat wirklich nicht zu viel versprochen. Natürlich kenne ich diesen Ausblick von Bildern. Es aber live zu sehen ist etwas ganz anderes.
Dies ist der einzige Moment, in dem ich tatsächlich nicht auf Morgan fokussiert bin, sondern auf die Stadt. Aber sie lässt es mich auch in aller Ruhe bewundern.

»Ich kenne eine Bar in der Nähe«, sagt sie, während wir den Broadway wieder zurückgehen.
»Gerne«, stimme ich ihrer versteckten Frage zu, bereue es aber in dem Moment, als wir davor stehen.
Nicht, weil es wirklich alt, etwas heruntergekommen und rustikal ist - denn das gefällt mir sogar - viel mehr wegen der Menschen, die sich darin befinden.
Zumeist tätowierte, langhaarige und bärtige Gäste. Männer, Biker. Aber auch Frauen, die nicht weniger einschüchternd sind. Whiskey und Zigaretten dominieren den Geruch der Lokalität, ebenso die Musik von Rock und Metal im Hintergrund.
Morgan hat mich tatsächlich in eine Szenebar geschleppt, in die sie selbst sehr gut hineinpasst. Und offensichtlich ist sie hier sogar öfters, da sie von dem Barmann freudig begrüßt wird.
»Ich bin mir nicht sicher ...«, beginne ich meine Zweifel auszusprechen und sehe mich um.
»Du brauchst dich nicht fürchten«, versichert sie mir und findet an der Theke einen Platz für uns. »Solange ich an deiner Seite bin, wird dir keiner zu nah kommen.« Frech schmunzelnd reicht sie mir den Whisky, den sie uns bestellt hat und fordert mich dazu auf, mit ihr anzustoßen.
»Oh, davor habe ich keine Angst. Mit Männern kann ich umgehen«, gebe ich selbstsicher von mir. »Es ist nur nicht mein Metier.«

Meine anfängliche Skepsis verfliegt aber schon beim zweiten Whiskey und mit jedem Mann, der sich zu uns gesellt, ohne so bedrohlich zu sein, wie er zunächst wirkt.
Zumeist ist es tatsächlich Morgan, die angesprochen wird, weil man sie hier kennt. Die häufigste Frage, die sie jedem beantworten muss, ist die zu meiner Person.
Verständlich, denn wenn ich mich selbst betrachte und mit den anderen Gästen vergleiche, fällt mein helles Outfit unter all den schwarzen ledernen so sehr auf, wie eine weiße Rose, die mitten auf dem Asphalt wächst.
Die Stimmung ist ausgelassen. Wir scherzen und trinken einen Whiskey nach dem anderen, bis ich selbst merke, wie sich meine Zunge immer mehr verknotet und ich kaum noch geradeaus sprechen kann. Und mit jeder Promille sinkt auch meine Hemmschwelle, weshalb ich mich immer mehr auf ihre Flirts einlasse - sie stellenweise sogar provoziere, bis wir sehr eng beieinander sitzen und ich ihr auch erlaube, mich auf eine gewisse Art zu berühren. Hin und wieder geht die Aktivität sogar von mir selbst aus.
Irgendwann sind auch unsere Gesichter sehr nah und ich warte regelrecht darauf, ihre heißblütigen Lippen auf meinen zu spüren.
»Wie gut bist du mit meiner Cousine befreundet?«, will sie dann aber wissen, ehe es soweit kommt, ohne sich von mir zu distanzieren.
»Gar nicht«, antworte ich hauchend und sehe umgehend das Grinsen auf ihren Lippen, bevor diese nun meine berühren.

MorganWhere stories live. Discover now