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Phönia ächzte, als sie das tote Reh von ihrem Schultern auf den Tisch fallen ließ und die rote Kapuze von ihrem Kopf strich. Die Jagd war heute beschwerlicher als sonst gewesen. Sie hatte lange im Hochsitz gewartet, ehe sie das erste Reh entdecken konnte, und ihr Rücken schmerzte nun von dem langen Sitzen.
»Vater, ich bin zurück!«, rief sie so laut, dass ihr Vater sie im Haus hören musste, und mit ihm auch der Metzger drei Häuser weiter. Flink hängte sie ihr Gewehr an den Haken und wusch erst ihre Hände, dann ihr Gesicht und den Nacken mit dem Wasser, das im Eimer neben dem Schuppen auf sie wartete. Das kühle Wasser prickelte auf ihrer Haut, so dass sie wohlig seufzte. Es war viel zu heiß für einen Spätsommertag. Doch Phönia kam nicht dazu, ihren Umhang abzulegen oder ins kühle Haus zu flüchten, denn ihre Mutter hatte sie gehört und riss das Küchenfenster auf. Winkend beugte sie sich zu ihr hinaus. Phönia trat zum Fenster, wobei sie auf die Kellerluke stieg.
»Rotkäppchen«, begrüßte ihre Mutter sie lächelnd, »endlich bist du zurück. Kannst du diesen Korb mit Kuchen und Wein zu deiner Großmutter bringen? Du weißt ja, das heiße Wetter bekommt ihr nicht so wohl.«
»Natürlich«, erwiderte Phönia, als würden ihre Beine nicht von dem langen Marsch schmerzen, der hinter ihr lag.
»Ich wollte ja Ella losschicken, aber du weißt ja, sie trödelt und träumt immer so viel«, erzählte ihre Mutter weiter. »Da ist mir nicht wohl bei dem Gedanken, dass heute Nacht das Lied der Prinzen erklingt und sie womöglich die Zeit vergisst.«
Phönia nickte wieder und ergriff die Hand ihrer Mutter. »Ich gehe«, antwortete sie. Ihr Herz zog sich zusammen. Allein wenn sie schon daran dachte, dass ihre kleine Schwester spät Nachmittags durch den Wald lief und dann noch an einem solchen Abend, stellten sich ihr alle Nackenhaare auf.
»Aber sei vorsichtig mit dem Korb«, sagte ihre Mutter und reichte ihn ihr durchs Fenster. »Das Glas kann leicht brechen.«
Phönia nahm den Korb und nickte, ehe sie sich zum Gehen wand.
»Und verlass den Weg nicht.«
»Mach ich nicht.«
»Und bleib nicht zulange!«
»Werd ich nicht.«
»Und hüte dich vor den Prinzen!«
»Ich hab dich lieb«, rief Phönia als Antwort und winkte ihrer Mutter am Tor noch einmal zu. Sie schloss es hinter sich und zog ihre rote Kapuze wieder tief in die Stirn, damit die Sonne ihre Wangen und Nase nicht verbrannte. Wie immer an solchen Tagen, würde ihr Vater sich um das Wild kümmern und es gut verwahren, damit die Prinzen es nicht rochen, wenn sie das Dorf besuchten.

Als sie die Hauptstraße hinab und auf das Tor zu ging, hörte sie, wie die Kinder beim Seilspringen das Lied der Prinzen sangen. Sie drehte ihren Kopf zu ihnen und winkte der Müllerstochter zu, die nun als letzte im Seil sprang. Die anderen Kinder riefen munter das Lied im Takt des Seils:

»Papa hat ne Tochter,
Die lebte in nem Haus
Da sangen nachts die Prinzen
Die letzte kam heraus.
Papa sah die Tochter
Da verließ er das Haus
Er schoss auf den Prinzen
Eins, zwei, drei ...«

Phönia blieb stehen und sah der sechsjährigen zu, wie sie mit zusammengepressten Lippen Seil sprang. Zehn, zwanzig, fünfundzwanzig Sprünge schaffte sie, ehe sie sich mit den Füßen verhedderte und das Seil zum Stehen kam.
»Da spuckte er sie aus!«, rief Phönia mit den Kindern, die im Alter ihrer kleinen Schwester Ella waren. Dann erst bemerkte sie, dass sie stehen geblieben war, gefesselt von dem Seilspringen der Müllerstochter. Noch einmal winkte sie ihr lächelnd zu. Das Mädchen grinste breit.
»Sieh Rotkäppchen, fünfundzwanzig!«, prahlte die kleine und rannte auf sie zu. Phönia erwiderte ihre Umarmung, als das Mädchen ihre Arme um ihre Taille schloss. Sie streichelte durch das offene, braune Haar der Kleinen. »Kommst du morgen zu uns?«
»Ja«, versprach Phönia und beschloss, dass sie sich morgen Zeitschaffen würde. Irgendwo zwischen der Hausarbeit und dem Fallenstellen würde sie es schon einrichten. Vielleicht müsste sie das Treffen mit dem jungen Mann, dem Hufschmied, absagen, das ihre Mutter vereinbart hatte, doch bestimmt gab es auch einen anderen Weg.
»Wo gehst du hin?«, fragte die Kleine und linste unter die Decke, die auf dem Korb lag. Phönia zog den Korb weg und hob ihn so hoch, dass das Mädchen nicht hineinschauen konnte.
»Zu meinem Großmütterchen«, antwortete sie und stupste dem Mädchen auf die Nase. »Und du solltest schleunigst nach Hause verschwinden, bevor die Prinzen kommen und dich ... wegschnappen!« Das Mädchen kreischte, als Phönia die Hand nach ihr ausstreckte und floh. Lachend blieb sie, ein paar Schritte weiter, stehen, ehe sie ihr zum Abschied winkte. Phönia machte einen Knicks und ging die Straße weiter hinab. Am Tor grüßte sie den Pförtner, der sie nur noch einmal ermahnte rechtzeitig zurückzukehren. Anschließend bog sie auf den Waldweg ein und beeilte sich das Haus ihrer Großmutter zu besuchen, das etwa dreißig Minuten vom Dorf entfernt lag.

Das Lied der PrinzenWhere stories live. Discover now