Der große Schöpfer

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,,Die Nacht ist bei den Menschen längst angebrochen. Macht euch ans Werk! Ich will eure Finger tippen sehen, bis sie bluten", verlangte er.
Die Worte kamen aus seinem überaus riesigen Mund geschossen und bahnten sich einen Weg durch meine Ohren bis tief in mein Gehirn. Seine markante Stimme war ohrenbetäubend. Noch nie hatte ich ihn in normaler Lautstärke sprechen hören.
,,Ja, Sir", sagte Keon und fing sofort zu tippen an.

Seine Finger arbeiteten, bevor er überhaupt wusste, was er da schrieb. Der Aufseher rückte sich seine Brille zurecht, damit er mich besser anstarren konnte. Sein prüfender Blick lag mehrere unausstehliche Sekunden lang auf mir, bevor er sich davonmachte, um die nächsten Arbeiter zu terrorisieren.
,,Psst, Neuer", zischte Keon mir zu, der sich immer noch nicht die Mühe gemacht hat, sich meinen Namen zu merken.

Er reckte seinen rundlichen Kopf zu mir herüber und flüsterte, als würde er mir ein Geheimnis mitteilen, das wir beide mit ins Grab nehmen müssten.
,,Wenn dir nichts einfällt, kannst du deine Träume so erschaffen, dass die Menschen von alleine ihren Traum bestimmen."
Ich wurde hellhörig. Die Stirn runzelnd, kam ich Keon näher und fragte: ,,Wie soll das gehen?"

,,Es wissen nicht viele davon. Du kannst die Träume jedoch so gestalten, dass Menschen wissen, dass sie träumen. Dann können sie ihre Träume selbst beeinflussen. Alles läuft automatisch sozusagen. Ich tue das jeden Tag, berichte von dem Traum aber so, als hätte ich die ganze Handlung selbst erschaffen", erzählte er stolz den Kopf nickend, als hätte er mir soeben den größten Gefallen meines Lebens getan.

Den Träumen der Menschen freien Lauf lassen und darüber Bericht erstatten, als hätte man sich alles selbst ausgedacht.
Dass Keon faul war, sah man ihm an. Eine Geschichte für einen Traum auf dem Computer zu verfassen und zu dokumentieren war die eine Sache. Sie den Menschen im Nachhinein wirklich träumen zu lassen war die andere und das ging leider nicht mit Computern.

Wir spürten, wann unsere Menschen schliefen und welche noch tief Nachts wach blieben aus welchen Gründen auch immer. Ihr Verstand bildete sozusagen ein Teil unseres Zuhauses. Wir waren für das Unterbewusstsein zuständig. Erfüllten wir unsere Aufgabe nicht, verloren wir unsere Existens. Wie es sich wohl anfühlte, sich in Luft aufzulösen und seine gesamte Welt und somit sich selbst zu verlieren? Ins ewige Nichts oder auf ewig verdammt für andere zu leben.

Wie dem auch sei, die vorgefertigten Träume übertrugen wir, nachdem sie eingeschlafen waren. Es forderte uns also einiges an unseren Kräften ab, weswegen Keons Vorschlag natürlich eine starke Entlastung wäre.
Das ging mir jedoch zu weit. Wenn ich hier sitzen musste, dann wollte ich wenigstens meinen Spaß dabei haben.

,,Ne, lass mal."
Bereit, mich an die Arbeit zu machen, startete ich den Computer. Dreißig Menschen waren mir zugewiesen. Die verstorbene Schreiberin musste einen Haufen zu tun gehabt haben, wenn sie jeden Tag für dreißig Personen mehrere Träume erstellen musste. Nun hatte ich all die lästigen Menschen am Hals.

Der einzige Unterschied: Ich achtete nicht auf die Leben meiner Menschen, ihre psychische Verfassung oder ihren Erlebnissen und was sie alles zu verarbeiten hatten. Das würde mir zu viel Zeit kosten. Kein Grund, alle Akten durchzugehen. Ich erkannte durch einen kurzen Blick auf ihre Bilder, was für Personen sie waren und wusste genau, was sie gerade brauchten. Das nannte man Menschenkenntnis. Vermutlich war ich ein Naturtalent.

Zum Beispiel Saylor Winston, die achtzehnjährige Oberschülerin. Ich sah ihr sofort an, dass sie eine Frohnatur war. Mit ihrer dunklen, lockigen Mähne sah sie aus wie eine energiegeladene und schwungvolle Person. Ihre großen, braunen Augen waren umrundet von dicken, schwarzen Wimpern. Sie wirkten voller Leben und Farbe, voller Fantasie und Temperament. Ihre vollen Lippen hingen aber reglos und ohne jeglichen Ausdruck da. Kein Lächeln. So fröhlich schien sie auf dem Bild nicht zu sein. Das machte aber nichts aus. Von Keon hatte ich nämlich gehört, dass Menschen auf ihren Bildern gezwungen wurden, nicht die leiseste Miene zu machen. Passfoto nannte man es. Komischer Name.
,,Hm, was erstelle ich ihr heute?", grübelte ich vor mich hin.

Antagona - LügentraumWhere stories live. Discover now