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Sie fuhren alle in einem Auto. Ein grauer Ford, ein etwas älteres Modell, trotzdem noch gut in Schuss. Der Wunderbaum glich den Geruch aus, der sonst eine Mischung aus altem Leder und entkoffeinierten Softdrinks wäre. Vier Personen; zwei vorne, zwei hinten. Wäre das eingebaute Radio funktionsfähig, hätten sie auch einen anderen Sender hören können, als den, der unentwegt des hängengebliebenen Reglers wegen auf der 106,4 hing. Ein Sender mit Yachtrock. Was war eigentlich Yachtrock? Keiner der vier wusste es und bis auf die sehr sporadischen Moderationen des Moderators MC Steve, in denen er aber weder die Bedeutung des Yachtrocks, noch andere Informationen zu den Songs gab, sondern stattdessen Hörergrüße vorlas und sich selbst an diesen so sehr erfreute, dass er gleich nach dem Vorlesen, in ein leises hohes Kichern ausbrach, was seiner sonst sehr tiefen und rauen Stimme eine überraschende Abwechslung bereitete. "Und jetzt: Sentimental Lady von Bob Welch, bei der Gelegenheit möchte ich noch Calsey grüßen. Sie sitzt gerade mit ihrer Familie am Tisch und hört uns dabei. Liebe Grüße an dich und deine Familie!" Wir könnten es doch einfach ausschalten, dachte er. Wieso mussten sie diesen scheinbar mittellosen Yachtrock-Sender hören, ja fast schon ertragen? Andererseits nahm der Song gerade eine spannende Wendung und wallte aus seinen üblich langsam und schmierigen Klängen auf, hoch zu einem Schlagzeugeinsatz, – übrigens der erste im Jenseits all dieser transzendenten Musik – der nach kurzer Zeit dann aber auch wieder abklang und Bob Welch weiter seine bemitleidenswerten Songtexte, getragen von seiner weinerlichen Stimme, zum Ende brachte.

Schließlich hatte er sich mit dem Sender abgefunden. Trotz dessen lief das Radioprogramm wie in einem Rausch an ihm vorbei. Er schaute aus dem Fenster; es regnete. 

Vor ein paar Jahren war er noch zur Schule gegangen. Sein Lieblingsfach war Geschichte gewesen. Ihr Lehrer hatte ihnen immer wenig Hausaufgaben aufgegeben und viel Wert daraufgelegt ihnen sein Wissen möglichst nah zu bringen. Da saß er damals in der ersten Reihe mit Ken und Suzie. Es waren natürlich noch viele andere im Raum, aber die beiden, die er wirklich mochte, denen er eine Wichtigkeit zugeordnet hatte, waren Ken und Suzie. Er kannte sie noch nicht lange. Sie waren kurzzeitig nach den Sommerferien auf die Schule gewechselt. Alle haben damals spekuliert ob sie ein Paar wären, niemand wusste es genau; nur er. Er wusste, dass sie ein Paar waren. Sie hatten es ihm in einer Mittagspause gesagt. "Wir sind ein Paar.", sagte Suzie. "Ja, wir sind schon lange zusammen.", erwiderte Ken. "Achso.", hatte er damals geantwortet. Am ersten Tag hatten die beiden sich zu ihm in den Geschichtsunterricht gesetzt. Als erstes wollte er die Hände über seinem Kopf zusammenschlagen. Das war sein Fach, seine Leidenschaft, sein Lehrer. Hier wollte er aufpassen, etwas lernen, sich weiterbilden. Für ihn waren diese beiden Gestalten reine Ablenkung, die ihn davon abhielt Notizen zu machen. Doch es dauerte nicht lange, bis er seine Allüren ablegte und sich - überraschenderweise - den beiden öffnete. Oder waren sie es, die sich ihm öffneten? In einer Geschichtsstunde hatte Suzie ihn gefragt ob er schwul sei. Er hatte sie daraufhin verwundert angeschaut, danach mit den Schultern gezuckt und sich dem Unterricht wieder zugewendet. Er war nicht schwul, das wusste er, aber wieso sollte er ihr das verraten? Er kannte sie überhaupt nicht, sie hatten seither noch kein einziges Mal ein Wort gewechselt, und jetzt aus heiterem Himmel fragte sie ihn einfach so ob er schwul sei. Seine Sexualität war für ihn doch immer eine Diskretion gewesen. In der nächsten Geschichtsstunde war es Ken der ihn etwas fragte. "Bist du gut in Mathe?", fragte Ken. Er hatte daraufhin mit "Ja" geantwortet, und das irritierte ihn, weil er eigentlich gar nicht so gut in Mathe war, aber aus irgendeinem ihm selbst unerklärlichen Grund, das Bedürfnis gehabt hatte, diese Frage mit "Ja" zu beantworten. "Kannst du uns vielleicht helfen?", fragte Ken. "Ja", antwortete er. In der folgenden Mittagspause setzten sie sich zusammen. 10 Minuten vergingen in denen er ihnen eine relativ rudimentäre Erklärung zu Wahrscheinlichkeiten darbot. "Sei ganz ehrlich, wen würdest du hier aus dem Raum ficken?", fragte Suzie. Er war etwas perplex. Sie schien eine sexuelle Obsession zu haben, wenn vielleicht auch eher eine die Sexualitäten von fremden Menschen betreffend. "Keine Ahnung", sagte er, "da habe ich noch nie drüber nachgedacht." "Das kann nicht sein.", sagte sie. Ken schloss sich ihr an: "Du hast doch bestimmt schonmal drüber nachgedacht. Ich hab auch schon drüber nachgedacht und ich bin erst eine Woche hier. Ich würd die da drüben nehmen."  Ken zeigte auf ein Mädchen in kurzem Rock, einem körperbetonenden Oberteil und langen hochgezogenen Socken. "Ich hab keine Ahnung, wie sie heißt, aber ich würd sie vögeln.", sagte Ken. Zu seinem Verwundern störte Suzie dieser Kommentar von Ken überhaupt nicht. Suzie lachte. "Ach komm, niemand hat dieses Gedankenspiel noch nicht gemacht. Ich hab's mir zum Beispiel mit dem Typen da drüben vorgestellt. Wie heißt der nochmal: Noah?", fragte Suzie. Ja, er hieß Noah. Und er kannte Noah schon lange, sie waren gemeinsam in den Kindergarten gegangen, hatten gemeinsam das Skifahren gelernt und waren gemeinsam als letzte auf der großen Übernachtungsparty von '97 gefunden worden. Aber irgendwann hatte Noah eine Freundin gehabt: Laurie. Seitdem war er unzertrennlich mit Laurie verbunden, und ebenso unzertrennlich mit ihrem Freundeskreis. Noah und er wechselten nur sporadisch ein paar Worte auf gemeinsamen Feiern ihrer Eltern. Die fetten Jahre der beiden waren vorbei. Ken lachte auf. "Ich wusste, ich hab's mir gedacht, du würdest den knallen wollen.", sagte Ken. Was für ein komischer Ausdruck "knallen, vögeln, ficken", dieses Paar verwunderte ihn mit jedem ausgesprochenen Satz noch mehr. Er überlegte. "Ich hab schonmal darüber nachgedacht es mit Nancy zu tun.", sagte er. Ken und Suzie klatschten in ihre Hände. "Ja, ich wusste es doch!", sagte Ken. "Aber unter uns; Nancy, echt?", fragte Ken. Ja, Nancy echt. Er war in Nancy seit der 7. Klasse verliebt. Und seit der 7. Klasse war es ihm ein Rätsel gewesen wieso er sich so ruckartig in sie verliebt hatte. Er kannte sie seit der 5. Klasse, er hatte sich nie sonderlich für sie interessiert. Er fand sie auch nie sonderlich attraktiv, hübsch oder lustig. Aber mit Beginn der 7. Klasse war er auf einmal in sie verliebt. Damals hatte er noch versucht eine Ursache für diesen Emotionsimpuls zu finden, doch inzwischen hatte er sich damit abgefunden, dass es eben einfach so war, dass er sie liebte, dass er mit ihr zusammensein wollte, dass er sie heiraten und Kinder mit ihr kriegen wollte. Natürlich verriet er all das jetzt nicht. Ken und Suzie konnten zwar wissen, dass er sie am ehesten "ficken" - obwohl, wenn er ganz ehrlich zu sich selbst war, er sich das noch nie vorgestellt hatte - würde, aber seine tatsächlichen Gefühle für sie, würden geheim bleiben. Denn niemand wusste davon, und wieso sollte er ihnen beiden, mit denen er vor Minuten und sehr spärliche Wortwechsel gehabt hatte, dieses Geheimnis anvertrauen? "Also, ich finde dich sympathisch", sagte Suzie. "Ich mag dich auch", fügte Ken an. "Ich finde wir sollten ab sofort miteinander rumhängen.", sagte Suzie. Danach streckten ihm Beide die Hand hin, und warteten darauf, dass er sie schüttelte. Er überlegte kurz, erhob dann seine eigene Hand und schüttelte sie beiden. Eigentlich fand er das gar nicht so schlecht, er hatte eigentlich niemanden zum rumhängen; und es war ihm sogar recht, dass er ab sofort mit zwei anderen Wesen durch die hohen Schulkatakomben schlendern konnte. In der nächsten Geschichtsstunde, saßen - wie zuvor auch schon - also Ken und Suzie bei ihm. Doch diesmal waren sie ja Freunde. Das hatte zur Folge, dass er während einem wichtigen Vortrag seines Lieblingslehrers lieber mit Suzie über T.C. Boyles' "America" philosophierte. Und das hatte wiederum zur Folge, dass er sich keine Notizen machen und bei den Hausaufgaben völlig desorientiert und ratlos eine beschriebene Seite nach der anderen rausriss, zerknüllte und schließlich mit Bravur in den hinter ihm stehenden Papierkorb warf. Aber immerhin; er bereute nicht während des Unterrichts mit Suzie gesprochen zu haben. Es hatte sich herausgestellt, dass sie ebenso ein großer T.C. Boyle-Fan war, wie er. Nach eigener Prognose war die Wahrscheinlichkeit auf einen solchen Fan zu treffen relativ gering. Es vergingen Wochen und deren Ablauf war immer ähnlich. Er saß mit Ken und Suzie im Geschichtsunterricht, sie schlenderten gemeinsam über den Schulhof und saßen während der Mittagspause an einem Tisch und unterhielten sich; gerne darüber, wer wohl mit wem ficken würde. Dabei war Suzie ganz weit vorne, denn sie stellte praktisch jede Pause eine neue intrigenhafte Geschichte auf, wie wohl Laurie heimlich mit Peter, oder Janet ganz offensichtlich mit Tim auf einer Party, oder wie Clara im Unterricht heimlich Harrys "Schwanz" streichelt. Er hielt das eigentlich alles für relativ unrealistisch, doch war fasziniert von Suzies Fähigkeit Geschichten mit einer solchen Begeisterung und Fantasie vorzutragen, dass sie praktisch so klangen, als hätte sie alles miterlebt. Ken meldete sich auch manchmal zu Wort, meist zählte er aber immer nur auf, wen er beim heimlichen Kiffen oder Koksen erwischt hatte. Er machte sich einen Spaß daraus die Jüngeren zu erschrecken. In den großen Pausen, wenn alle 8. und 9. Klässler sich hinter den Mülltonnen versammelten um kollektiv high zu werden, schlich er sich langsam heran, verstellte seine Stimme, sodass sie tief und alt klang und rief einem sehr selbstbewussten Ton den Kindern Drohungen hinterher: "Was macht ihr denn da? Das werde ich euren Eltern erzählen!", "Schulverweise für alle!". Wenn Ken das machte stand Suzie alleine mit ihm ein paar Meter entfernt. Sie lachte sich darüber schlapp und gelegentlich lachte er aus Höflichkeit mit. Sie rauchte. Und sie durfte das, weil ihr Arzt Nikotin verschrieben hatte, zumindest war das ihre Geschichte und keiner der Lehrer oder Mitschüler hatte es je in Frage gestellt. Was, wie er fand, ein bisschen unvorsichtig und schlampig war. Er wusste nicht wieso, aber Ken und Suzie hatten auf der Schule ein immenses Ansehen. Niemand wusste ja, dass sie zusammen waren - bis auf ihn. Seit er so gut mit Ken und Suzie war, wurde er von niemandem mehr blöd angemacht oder sogar nur angeschaut. "Komm mal nach der Schule mit uns.", sagte Suzie irgendwann. Wieso nicht, dachte er sich. Nach dem Geschichtsunterricht gingen sie also gemeinsam zu Ken nach Hause. Weder seine Mutter, noch sein Vater, noch irgendein anderes Familienmitglied war anwesend, als sie eintrafen. Vielleicht hatte er sie aber auch einfach nicht gefunden, da Ken's Haus unvorstellbar groß, prächtig und fast schon majestätisch war. "Sind deine Eltern Könige?", hatte er gefragt und Ken brach daraufhin in eine frenetisches Gelächter aus. "Was? Meine Eltern? Nein, die sind im Leben keine Könige.", sagte Ken. Leider gab es nicht viel Zeit um sich im Haus umzusehen, da Ken fast im Sprint mit ihnen in sein Zimmer lief. Ob er wohl etwas zu verbergen hatte? Wahrscheinlich nicht. In Kens Zimmer angekommen, war er überwältigt. Ein riesiger Raum, mit moderner Kunst an den Wänden, weißen Teppichen auf dem Boden, von oben hängenden Kronleuchtern, ein Fenster, das sich als Tür herausstellte, welche auf eine große Balkonfläche führte, die einen wunderbaren Ausblick über den überdimensionalen, gut gepflegten und voll und ganz grünen Garten gab. Es war wie im Traum, es war wie im Wunderland, es war wie auf Psilocybin. Nach kurzer Zeit klopfte es an der Tür; ein Mädchen ungefähr in seinem Alter betrat den Raum. "Das ist Cindy.", sagte Ken. "Cindy, setz dich doch zu uns!", fuhr Ken weiter fort. Wo genau "zu uns" war, war schwer zu sagen. Ken selbst saß in einem eleganten Ottoman-Sessel, der seines Wissens nach mal mindestens 3.000 Euro kosten müsste, Suzie hatte es sich auf dem pompösen Hochbett, was sich im hinteren Teil des Zimmers befand, gemütlich gemacht und er selbst stand noch ein wenig unbeholfen mittig im Raum und fragte sich, auf welchem der unzähligen Sitzgelegenheiten er sich niederlassen sollte. Nach Kens Bemerkung machte sich Cindy auf den Weg und setzte sich auf die rote Couch, die eine Form hatte, die volle Lippen aber auch eine Vulva sein könnte. "Setz dich doch zu Cindy!", sagte Suzie. Er dachte kurz nach, fand dann aber keinen Grund es nicht zu tun und setzte sich schließlich zu Cindy auf die Vulva-Couch, so nannte er sie ab sofort. "Wir haben uns gedacht, du hast noch nie gefickt, und du magst Nancy. Also, Cindy sieht, finde ich, " - sie drehte sich zu Ken, um von ihm ein erwiderndes Zunicken zu erhalten - "Nancy sehr ähnlich.", sagte Suzie. "Was, wir kennen uns doch gar nicht.", entgegnete er. "Du kannst mich trotzdem ficken", sagte Cindy, und das war das erste Mal, dass sie in seiner Anwesenheit gesprochen hatte. Ihre Stimme war sehr angenehm, nicht zu hoch, nicht zu fiepsig, genau richtig. Außerdem empfand er in ihrer Ansprechhaltung eine Art Laszivität. Er mochte das. Aber er wollte sie nicht ficken, er hatte das noch nie gemacht und sich immer vorgestellt, dieses illuminierende Ereignis mit einer besonderen Person, einer Person, die er liebte, zu machen, zum Beispiel mit Nancy. "Sie sieht auch aus wie Nancy.", sprach Suzie erneut, als hätte sie seine Gedanken gelesen. Also wieso nicht? Was hatte er zu verlieren, und außerdem war es immer angesagter seine Jungfräulichkeit in einem möglichst jungen Alter zu verlieren. Er wollte sie nicht erst mit 34 ablegen. Und wenn es ganz schlecht laufen würde, wäre dies hier seine einzige Chance. 

Ein lautes Lachen zerrte ihn aus seinen Gedankenreisen. Es war das Lachen von MC Steve, der erneut einen Hörergruß vorgetragen und sich danach an seinem selbst geschriebenen Witz so erfreut hatte, dass er in brachiales Gelächter ausgebrochen war. Zwar hatte er sich mit dem Radiosender eigentlich abgefunden, aber er fand diesen - wenn man ihn überhaupt so nennen konnte - Moderator wirklich fürchterlich. War er eigentlich bekifft? Zumindest klang es so. Er schaute wieder aus dem Fenster, der Regen war stärker geworden. Die Tropfen knallten jetzt regelrecht an seine Fensterscheibe, bis aus dem Regen Hagel wurde und er bei jedem großen Hagelkorn zusammenzuckte und gestehen musste, dass er ein wenig Angst davor hatte, dass das Glas diese immense Masse an Hagelkörnern nicht mehr lang aushalten und gleich zerbrechen würde. Aber natürlich tat es das nicht. 

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⏰ Last updated: Jul 27, 2021 ⏰

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