Wie automatisch strich ich ihm sanft über den Rücken. Er würde sich niemals davon erholen. Miss Magpie hatte meinem Bruder die Seele unwiderruflich zerrissen. Sie hatte ihn in solch einem Ausmaß zerstört, in dem es keine Heilung mehr gab. Das einzige was ihm blieb, war damit zu leben oder daran kaputt zu gehen.

»Er hat keinen Augenblick die Augen von mir genommen, als ich es getan habe!«, flüsterte Lucius gequält. »Und er war mir noch nicht einmal böse. Du hättest den Ausdruck in seinem Blick sehen sollen!«

»Er war dein bester Freund.«, sprach ich leise. »Und er hat daran geglaubt, dass du nicht verloren bist. Er hat Zeit schinden wollen. Er war sich so sicher, dass du wieder zu dir finden würdest.«

»Er ist tot!«, erwiderte Lucius und packte mich voller Verzweiflung an den Schultern. »Und ich bin schuld daran!«

»Ich kann dir nicht sagen, dass alles wieder gut wird. Denn das wird es nicht.«, sagte ich. »Was ich dir aber sagen kann, ist, dass es nicht deine Schuld ist. Du hattest keine Kontrolle über dich. Es ist wahr, dass es deine Hände waren, die ihn getötet haben, aber es ist Miss Magpie, die die Schuld trägt. Sie war der Wille und du das Werkzeug.«

»Das ändert nichts daran, dass es meine widerwärtigen Hände waren!«, knurrte er und zuckte sogleich bei diesem Geräusch zusammen. Ob er sich jemals daran gewöhnen würde? Ich bezweifelte es. Lucius war nicht dafür gemacht, ein Mutant zu sein. Zu lange hatte er Mutanten verabscheut. Mittlerweile konnte er andere Mutanten akzeptieren und sie sogar mögen. Aber sich selbst würde er als Mutant niemals akzeptieren. Er würde daran kaputt gehen.

(Trigger-Warnung: Suizidgedanken)

Ich fand keine Worte, um ihn zu beruhigen. Und so blieb mir nur, ihn wieder in meine Arme zu ziehen. Erneut bebte sein Körper unter dem Schluchzen. Fest krallten sich seine Hände in meine Schultern und er bemerkte es noch nicht einmal. Still ertrug ich den Schmerz, als sich seine Krallen in meine Haut gruben. Lucius konnte seinen neuen Körper noch nicht einschätzen und somit auch nicht die damit verbundenen Kräfte. Ich warf ihm das nicht vor. Er hatte gerade genug, mit dem er fertigwerden musste. Und meine Wunden würden heilen. Sie würden niemals gänzlich verschwinden, dazu waren sie zu tief. Von nun an würde ich für immer von Narben gezeichnet sein. Aber ich war am Leben. Und Lucius war es auch.

»Töte mich.«, hauchte mein Bruder plötzlich.

»Was?« Ich zuckte zusammen. Das hatte er jetzt nicht wirklich gesagt.

»Bitte. Töte mich.«, flehte er und presste mich ganz fest an sich. »Ich kann das nicht. Ich kann so nicht leben.«

Entschlossen schloss ich ihn fester in meine Arme. »Ich werde dich ganz sicher nicht töten, Luc.«, sagte ich. »Du schaffst das. Es wird nicht leicht. Aber du schaffst das.«

»Ich habe James und Enya getötet, Freya!«, schluchzte mein Zwilling. »Ich bin ein Mutant!«

»Das war nicht deine Schuld. James wusste das. Und Enya bestimmt auch.«, erwiderte ich und strich beruhigend über seinen Rücken.

»Ich bin ein Monster!«, weinte er.

»Nicht du bist das Monster, sondern Miss Magpie.«

»Du verstehst das nicht!«, schluchzte er und löste sich aus meiner Umarmung. Schmerz und Trauer standen in seinen Augen.

»Sie nicht. Aber ich.«, ertönte nun Kierans Stimme. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie er an uns herangetreten war. Vorsichtig kniete er neben meinem Bruder nieder und sah ihm fest in die Augen. Die Verständnis in seinem Blick ergriff auch mich und ließ mich ganz benommen fühlen.

Freya Winter - MutantWhere stories live. Discover now