Leonardos Rätsel

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Er hatte Jesus mit Johannes verwechselt. Professor Robert Langdon stand wie paralysiert vor dem Gemälde im Raum E der Londoner Nationalgalerie. Jesus war eindeutig Johannes!

Langdon hatte keine Ahnung, wie lange er schon auf das Gemälde starrte, aber es war lang genug, um einen Museumswächter auf ihn aufmerksam zu machen. Aus den Augenwinkeln heraus sah er, dass der Wächter ihn misstrauisch beäugte.

Es war unwahrscheinlich, dass der bullige Mann in Uniform ihn aufknüpfen würde, nur weil er länger als dreißig Minuten auf der gleichen Stelle gestanden hatte. Andererseits konnte er nicht leugnen, dass ihm die unwahrscheinlichsten Dinge ungewöhnlich häufig passierten. Daher machte ihn der Blick des Mannes nervös.

Unbewusst fingerte er an seiner alten Micky-Maus-Armbanduhr, schob das schwarze Lederarmband am Arm etwas nach oben, nur um es im nächsten Moment wieder nach unten zu ziehen.

Langdon hatte das Gefühl, dass die Wände um ihn herum langsam immer mehr zusammen rückten, dennoch wich er keinen Millimeter aus seiner Position.

Er konnte hier nicht weg. Nicht jetzt! Wie gebannt betrachtete er die Felsengrottenmadonna – eines der wenigen erhaltenen Gemälde Leonardo da Vincis. Sein Blick wanderte unablässig über das Bild auf der Suche nach weiteren Hinweisen. Immer wieder fixierte er den langen Stab in der Hand des einen Knaben, den goldenen Heiligenschein, der das Haupt des Jungen zart umrahmte. Der Stab war als Symbol eindeutig Johannes dem Täufer zuzuordnen. Doch was hatte der Junge neben Maria zu suchen und warum saß das Jesuskind bei einem dahergelaufenen Engel?

Langdon fühlte sich elend. Er hatte den Studenten in seinem Kurs an der Eliteuniversität Harvard jahrelang Unsinn doziert. Doch das war nicht alles. Sein letztes Buch dokumentierte seinen Denkfehler in mindestens zwei Kapiteln Schwarz auf Weiß. Langdon seufzte innerlich. Er wusste, dass einem führenden Symbologen diese Verwechslung nicht hätte passieren dürfen.

Trotzdem ergab die Komposition keinen Sinn! Zumindest nicht nach rein menschlichen Gesichtspunkten.

Langdon spürte die Enge des abgedunkelten Raumes körperlich, die ersten Schweißtropfen rannen unaufhaltsam seine Arme hinunter.

Er schluckte und schloss die Lider. Vor seinem inneren Auge erschien der Louvre, dessen weitläufigen Hallen die beengten Räumlichkeiten des Londoner Pendants in jeder Hinsicht in den Schatten stellten.

Im Pariser Louvre hing eine andere Version der Felsengrottenmadonna von Leonardo da Vinci. Langdon erinnerte sich gut an dieses Meisterwerk: seine kräftigen Farbkontraste, die meisterhafte Ausführung des Sfumato, eine Technik, die Leonardo wie kein Zweiter beherrscht hatte. Ihm gefiel das Gemälde im Louvre mehr als das Bild, vor dem er jetzt stand. Nicht nur deshalb, weil er persönliche Erinnerungen mit dem Gemälde im Louvre verband oder weil sein Stil unzweifelhaft Leonardos Hand erkennen ließ. Nein, es war die Menschlichkeit der Figuren, ihre Natürlichkeit, die er bewunderte. Auf den ersten Blick vermutete man auf dem Bild zwei Mütter, die gemeinsam mit ihren zwei Söhnen spielten. Dort gab es weder Heiligenscheine noch symbolträchtigen Stäbe, und selbst der Erzengel Uriel, der ganz eindeutig weibliche Züge besaß, war kaum als solcher zu erkennen.

Die Londoner Version der Felsgrottenmadonna war eine spätere, leicht modifizierte Fassung, die mit Gold und Heiligenscheinen eher der Bildtradition des späten Mittelalters entsprach. Allerdings wirkten die Figuren auf dem Bild statischer, fast wie in Stein gemeißelt. Dennoch verwunderte es niemanden, dass zweite Version mit seiner eindeutigen religiösen Symbolik den Auftraggebern, die Bruderschaft der Unbefleckten Empfängnis, besser gefallen hatte als die erste Fassung, die man für damalige Verhältnisse revolutionär nennen musste.

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