Peter Pan

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Tausend kleine Feen beleuchteten die Lichtung. Peter tanzte mit ihr unter den Sternen, und ein winziges Orchester spielte leise Musik. Alles war perfekt, ihr Traum war wahr geworden... Und doch war sie nicht glücklich. Leah wusste, dass sie zurück musste. Sie hatte Wendy nie verstehen können. Diese war wegen ihren Eltern und Brüdern zurück nach London gegangen.
Leah jedoch hatte weder Geschwister hier, noch vermisste sie ihre Eltern. Sie erinnerte sich kaum noch an sie. Es war wahr: Neverland lässt einen vergessen. Doch die Kindheit muss irgendwann aufhören. Auch wenn Peter etwas anderes behauptete. Sie liebte ihn, sie liebte ihn mit allem was sie hatte. Und sie würde ihr Leben dafür geben, bei ihm bleiben zu können. Aber das war nicht ihr Schicksal, das wusste sie. Sie nahm alle Gefahren in Kauf: Hook und seine Piraten, die Meerjungfrauen, die Indianer, die wilden Spiele der Lost Boys, die sie liebte wie ihre eigenen Kinder... Aber das alles reichte nicht. Sie konnte nicht für immer 13 bleiben. Und Peter, mit seinen 14 Jahren, war jung und naiv, doch er küsste sie immer öfter in letzter Zeit. Sie war nicht sicher, ob er irgendwann mehr wollen würde. Aber sie war sich sicher, dass sie dann nachgeben würde. Sie konnte nicht mit 13 Mutter werden. Von Kindern, die nie älter als 12 oder 13 werden würden. Wenn überhaupt. Vielleicht blieben sie auch auf ewig Babys. Und das konnte Leah einfach nicht verantworten. In Neverland war alles möglich. Und jedesmal, wenn sie glaubte, auf die Grenzen der Insel gestoßen zu sein, dann gab es doch noch einen magischen Trank, ein Ritual, einen Zauber der es möglich machte. Wenn sie zur Lagune laufen würde und die Meerjungfrauen darum bitte würde, da war sie sicher, wäre sie innerhalb von Sekunden unfruchtbar. Das einzige, was Neverland ihr nicht geben konnte, waren die Möglichkeiten. Es hieß nicht umsonst NEVERland... Man wird NIE erwachsen, durch manche Tränke wird man geheilt, kann die Insel aber NIE mehr verlassen. Für die Bewohner war das nicht weiter schlimm, sie liebten ihre Insel. Doch Leah machte es Angst. Peter meinte immer, dass sie auf ewig bei ihm bleiben könnte. Dass sie so wie jetzt immer leben könnte. Wenn sie nur wollte. Doch tief in ihr wusste Leah, dass das alles nicht wahr war. Sie musste nach Hause. Musste heiraten und eine Familie gründen. Neverland war ein wunderschöner Traum, Peter eine perfekte Erinnerung... Aber eben nicht die Realität. Und auch wenn es ihr das Herz brach, war es doch nicht echt. Es war nur eine Geschichte, die bald zu Ende sein würde. Und dann würde sie das Buch schließen müssen. Sie würde sich immer an ihn erinnern, ihn immer lieben. Aber sie konnten nicht zusammen bleiben. Peter gehörte nicht zu ihr. Er musste auf seiner Insel bleiben, und Leah zurück in die wahre Welt. Der Tanz endete. Die Musik verstummte. Peter nahm ihre Hand und ging mit ihr am Strand entlang. Die Jolly Roger, die nun Peters Schiff war, lag dort vor Anker. Beide wussten, was nun geschehen würde, und das machte es nur noch schwerer. Peter sah ihr in die Augen. Sie ertrank fast in dem tiefen Braun. "Bleib bei mir", hauchte er, sein Blick bohrte sich flehend in ihren. "Nein... Es tut mir leid" Leah konnte sehen, wie etwas in ihm zerbrach und eine Welle der Resignation über ihn hinweg rollte. Er nickte, scheinbar gefasst, doch Leah kannte ihn gut genug. Sie war schon seit Jahren in Neverland, doch zu Hause waren gerade einmal ein paar Monate vergangen. Vielleicht auch etwas mehr oder weniger. Leah wusste es nicht genau.
Sie erinnerte sich, wie sie Peter oft nächtelang in ihren Armen hielt, während er weinte. Sie erinnerte sich an viele Nächte, in denen er ihr die Insel zeigte. Sie erinnerte sich an die vielen Tänze. An die Art, wie er vor jedem Kuss leicht seinen rechten Mundwinkel nach oben zog. Wie er ihr beibrachte zu kämpfen. Sie erinnerte sich, wie er sie vor Hook gerettet hatte. Wie er ein Kleid für sie hatte anfertigen lassen, nachdem sie ihr altes an einem Dornbusch zerrissen hatte. Sie erinnerte sich an jeden einzelnen Moment. Es war wie ein Film, den sie in ihrem Kopf abspielen konnte. Neverland lässt einen vergessen. Aber was in Neverland geschah, bekommst du nie mehr aus dem Kopf, selbst wenn du versuchst, es zu verdrängen: Es ist immer da. Für immer. Sie sah Peter an. Es war an der Zeit zu gehen. Er verstand sie. Peter schloss die Augen und zog leicht die Augenbrauen zusammen. Er drückte seine Lippen auf Leahs Stirn. „Zweiter Stern rechts, Liebling. Der zweite rechts", flüsterte er an ihre Wange. Er sah sie an, eine Träne lief ihm über die Wange. „Das ist es jetzt, nicht wahr? Das Ende? Für immer?" „Das hier ist Neverland. Hier ist alles für immer!", antwortete sie. Peter nickte. „Wirst du weiterhin meine Geschichten erzählen?", fragte er. Leah nickte. „Jede Nacht" Peter lächelte schwach. „Ich werde dich nie vergessen" „Ich weiß", meinte Peter. Langsam ließ er seine Hände von ihrer Taille gleiten. Leah lächelte ihn ein letztes Mal an, bevor sie langsam nach oben schwebte. Peter hielt den Blickkontakt. Schließlich winkte er schüchtern. „Mein Kuss", sagte er. „Verlier ihn nie!" Leah sah den Fingerhut, der an einer seiner Ranken hing. Unwillkürlich berührte sie die Eichel, die mit einem Lederband um ihren Hals befestigt war, mit den Fingerspitzen. Sie lächelte. Dann drehte sie sich um, und ohne zurück zu blicken flog sie in den Stern. Sie wurde durch Raum und Zeit geschleudert, bevor sie kurz darauf wieder in ihrem Zimmer stand. Sie schloss das Fenster und strich die Vorhänge glatt. Eine Nacht. Sie gab sich eine Nacht, um um Peter zu weinen. Und sie weinte. Sie weinte bis die Sonne wieder am Horizont zu sehen war. Das Abenteuer war vorbei. Das Leben ging weiter. Sie wischte sich über die Augen, zog sich an und verließ ihr Zimmer. Sie würde sich der Realität stellen. Die Fragen ihrer Eltern über ihr Verschwinden beantworten. Heiraten. Erwachsen werden. Und sobald sie die Tür geschlossen hatte, schloss sich auch das Tor in ihrem Herz, durch das sie nach Neverland gelangte. Es wurde nie wieder geöffnet.
Jahre später bekam sie einen Sohn. Und sie nannte ihn Peter. Jede Nacht erzählte sie ihm Neverlands Geschichten. Nicht wissend, dass draußen auf dem Dach ihre erste Liebe saß und zusammen mit einer kleinen Fee zuhörte. Seit Jahren. Jede Nacht, seitdem sie ihn verlassen hatte.
"Sie ist glücklich, nicht wahr? Zu leben, so wie sie... Ist ein schrecklich großes Abenteuer", flüsterte der Junge mit den blonden Locken. Seine Fee klingelte zustimmend. "Und Leah... Sie ist mitten drin" Peter lächelte leicht, als Leah den Raum verließ. Sie trug ein Lederband mit einer kleinen Eichel um den Hals. Er hatte seine Geschichte gehört. Er würde nun zurück nach Neverland fliegen. In einigen Tag, wenn in der wahren Welt 24 Stunden vergangen waren, würde er wieder kommen. Er stieß sich vom Fensterbrett ab, warf einen letzten Blick zurück auf das Fenster, das sein einziger Einblick in das Leben seiner großen Liebe war... Oder zumindest in einen Teil davon. Dann flog er in den zweiten Stern rechts. Zurück nach Neverland, in das Land der Träume. Das Land, weswegen er seine Liebe aufgegeben hatte.

Peter Pan OSWhere stories live. Discover now