20 - La Bilirrubina

Start from the beginning
                                    

„Darf ich bitten?", höre ich seine tiefe Stimme.

Ein solch herzerwärmendes Lächeln strahlt mich an, als ich mich ihm zudrehe. Eine Strähne hängt ihm in die Stirn. Ich blicke auf die offene Handfläche, die er mir anbietet und zögere.

„Bist du dir wirklich sicher, dass du mit mir tanzen möchtest?", frage ich.

In seinen Augen blitzt ein Funke auf und er grinst.

„Zu hundert Prozent."

„Hast du mich vorhin mit Teo gesehen?"

„Ja, hab ich."

„Und hat dich das nicht abgeschreckt?"

„Nein. Im Gegenteil."

„Oh. Naja, ich dachte, wir könnten hier in der Ecke bisschen reden."

„Das können wir auch während wir tanzen. Das nächste Stück habe ich gewünscht. Es ist eines meiner Lieblingslieder. Und es ist Merengue. Da musst du noch weniger nachdenken, du musst dich einfach nur gehen lassen. Meinst du, du schaffst das?"

Ich blicke in seine braunen, warmen Augen und werde weich. Wie kann ich da nein sagen? Diesen Kaffeebohnen kann man auch wirklich keinen Wunsch verwehren!

Das Lied La Bilirrubina von Juan Luis Guerra setzt an und Chris nimmt meine Hand vorsichtig in seine. Er drängt mich nicht, wartet, bis ich mich entspanne und ihm folge. Ganz sachte bewegt er sich im wiegenden Merengueschritt hin und her und blickt mich dabei so eindringlich an, dass ich mir auf die Lippen beissen muss.

Chris bewegt sich mit einer atemberaubenden Hingabe zum Lied, seine Lider sind leicht gesenkt, während er der Musik horcht und seinen Körper im Rhythmus wiegt. Er zieht an meiner Hand und ich merke, wie ich ihm mit jedem Schritt näher komme.

Ich habe zwar noch nie Merengue getanzt, aber ich kenne die lateinamerikanischen Tänze. Die werden quasi aufeinander beziehungsweise aneinander getanzt. Das ist nicht wie der höfliche Walzer, nein, hier wird die Leidenschaft der Musik an den Körpern ausgetragen.

Kurz bevor der Refrain einsetzt, hat er es geschafft, mich ganz zu sich heranzuziehen. Sein rechter Arm ruht auf meinem Rücken und ich spüre, wie er auf meine Schulterblätter einen leichten Druck ausübt, um mich an sich zu drücken. Meine rechte Hand liegt sanft in seiner, während ich die andere auf seiner Schulter ausruhe. Meine Wange lehne ich an seine Brust, denn anderswo kann ich meinen Kopf nicht hinlegen.

"Me sube la bilirrubina. Cuando te miro y no me miras." Die einzigartige Stimme des Sängers hallt durch den Raum und etwas Magisches geschieht. Chris nimmt mir jegliche Unsicherheit, die ich bei Teo noch gespürt hatte.

In diesem Moment gibt es für mich gerade nichts Schöneres, als seine Körperhitze an mir zu spüren, seinen elanvollen Bewegungen zu folgen, mich von ihm führen zu lassen und ihm mein vollstes Vertrauen zu schenken. Mich an ihn lehnen zu dürfen und einfach die Augen schliessen zu können. Obwohl der Takt recht schnell ist, fühlt sich der Tanz nicht weniger sinnlich an. Im Gegenteil, es lässt mein Herz höher schlagen, meinen Atem schneller gehen.

Als wäre ein Tor aufgestossen worden, strömt alles in mein Herz. Es ist eine fast metaphysische Erfahrung. Es übersteigt das Fühlbare. Es ist, als würde die Musik meine Seele berühren, als hätten die Trommeln, das Akkordeon und die Stimme des Sängers die Passion in mir geweckt, die sich schlafen gelegt hatte. Ich fühle mich so erfüllt. Aus meinem Inneren breitet sich eine Wärme aus und ich kann mir nicht erklären, was es ist. Es transzendiert jegliche Erfahrung, die ich bisher mit Musik und Tänzen gemacht hatte.

Eine Flamme flackert in mir, schlägt mit dem fröhlichen, lebensbejahenden Rhythmus ihre Lohen höher in die Lüfte, will sich ausbreiten und mit dem Atemzug des Lebens weiter anwachsen.

HerzbruchversicherungWhere stories live. Discover now