Ich habe den ersten Schritt zu ihrer Sicherheit gemacht: Ich habe sie verletzt und von mir weggeschoben, nun unterstütze sie dabei, auf den Beinen zu bleiben.

Verdammt, sei der Vater meines Kindes für mich, wenn sie es doch behalten wird, es ist mir sichtlich egal, dass du eigentlich auf Männer stehst. Bleib einfach an ihrer Seite.

Mein Leben ist ein schmales Seil, das über einer Klippe gespannt wurde und heute, heute habe ich mich dazu entschieden, nicht weiter zu versuchen, im Gleichgewicht zu bleiben und zu springen. Ich lasse es hinter mir.

Witzig, wie ich alles zurücklasse, doch euch bleiben nur dieser Brief und eure Erinnerungen an mich und meine schlimmen Taten. Aber ich will, dass ihr wisst, dass es mir nun besser geht. Und auch wenn es schwer zu glauben ist, nachdem ich euch beide so hintergangen habe, waren die letzten Wochen meines Lebens mit euch - die besten, die ich erleben durfte.

Mehr habe ich nicht zu sagen, doch drei Worte liegen mir schon seit du mein Haus verlassen hast, auf der Zunge, Soraya. Und ich denke, nein, ich weiß, dass diese für dich wahrscheinlich keine Bedeutung mehr haben, aber ich liebe dich.

Ich wollte es dir eben ins Gesicht sagen, doch ich wusste, dass dies alles nur noch schlimmer machen würde. Der Schmerz in deinem Gesicht hat Bände gesprochen. Aber jetzt, jetzt kann ich es dir sagen:

Ich liebe dich, Soraya. Pass auf dich und Morris auf. Morris, pass auf sie auf. Sorg dafür, dass ich mit gutem Gewissen von uns gehen kann.

~ Ryou

Vom Brief aufschauend, versuchte ich meine zitternden Lippen zu kontrollieren. Vor meinen Augen war das Grab. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Wut kribbelte mir in meinen Fingerspitzen, Hass kroch meinen trockenen Rachen hoch.

Dieser verdammte Brief war das einzige, was mir von ihm geblieben war. Sonst nichts, wirklich gar nichts. Er hat es angesprochen: Obwohl er alles hinter sich gelassen hat, als sein Herz aufgehört hat zu schlagen, ist es jetzt trotzdem so, als hätte es ihn nie gegeben.

Gerne hätte ich seine Geschichte gekannt, denn ich bin mir sicher, dass die, die nun in den Medien verbreitet wurde, keineswegs stimmt. Ryou war sicherlich nicht von klein auf blutrünstig und mordlustig gewesen. Sonst hätte er diesen Brief nicht geschrieben.

Auch wenn er Leute getötet hat, schmerzte sein Tod, aber was mich innerlich komplett zerstörte, war sein letzter Wunsch. Ich habe versagt. Ich habe ihm diesen Wunsch nicht erfüllen können.

Wieder hob ich meinen Blick an und sah mir den grauen Grabstein an, in welchem ihr Namen eingemeißelt und verewigt war. Aya- Ich ballte meine Hände zu Fäusten und zerknitterte den Brief.

Verrat, Ryou hat von Verrat gesprochen. Nicht nur er hat uns verraten, denn die Polizei hat es ebenfalls getan. Aber wie? Wie konnten sie das tun? Warum haben sie es getan? Ich dachte, die Polizei stehe für Gerechtigkeit und Frieden.

Vielleicht hatte Ryou recht und einen verdammt guten, noch klareren Grund gehabt, die Polizei langsam auszurotten. Ich- ich kann ihnen – Haze und vor allem McCloud – nicht mehr ins Gesicht schauen, ohne puren Hass zu verspüren.

Sie haben nicht nur einen Mörder, der eigentlich eine Gefängnisstrafe zu bekommen hatte, planlos und hinter dem Rücken des Staats getötet und es dann so gerechtfertigt, dass er eine Gefahr bei der Festnahme war und deshalb das Feuer auf ihn eröffnet wurde.

Noch schlimmer, sie haben Aya als seine Komplizin erklärt und so ihren Tod, den Tod einer unschuldigen, jungen, schwangeren Frau schön geredet, als wäre es die einzig richtige Entscheidung gewesen.

Ich zuckte zusammen, als ich spürte, wie meine Tränen auf meinen Fäusten landeten. Ich konnte dies nicht mehr ändern. Es war nun geschehen, die Polizei hatte mich hintergangen. Aber- aber Aya-

Ich konnte es nicht glauben. Dieses Bild, welches sich für immer in meinem Gedächtnis eingebrannt hatte, schwebte vor meinen glasigen Augen und ich sah starr geradeaus.

Dieses Bild, wie sie zusammen auf dem Badezimmerboden lagen, umgeben von ihrem Blut und die Finger ineinander verhakt, als hätten sie zusammen am letzten Atemzug festgehalten.

Meinen Kopf schüttelnd, weil mir schwindelig wurde, richtete ich mich wieder auf. Den Brief glättete ich etwas und faltete ihn sorgfältig zusammen, um ihn dann zurück in meine Jackentasche zu schieben.

Als er diesen Brief geschrieben hat, dachte er, nein, er glaubte daran, Aya zu retten, sie zu beschützen. Doch schließlich musste er mitansehen, wie sein letzter Wunsch von Kugeln durchlöchert wurde und starb.

Wieder schüttelte ich meinen Kopf, es ging mir nicht gut, ganz und gar nicht gut. Zuerst Val unter dem Schrank, dann meine anderen beiden letzten Freunde, die ich hatte, zerfetzt von Kugeln auf dem weißen Fliesen. Ich verlor meinen Verstand.

Diese Bilder jagten mich, suchten mich heim, wenn ich meine Augen schloss. Ayas unschuldige, lebensfrohe Augen sahen mir entgegen, wenn ich in den Spiegel schaute. Valerias keckes Lachen, wenn sie recht hatte, lag mir pausenlos im Ohr und Ryous Geschichte, die ich gerne ganz gekannt hätte, gab mir das Gefühl, ein schlechter Mensch zu sein, weil ich ihm und wahrscheinlich vielen anderen, die das erleben mussten, nicht helfen konnte.

Es gab keine ruhige Minute mehr in meinem Kopf, mein ganzer Körper stand unter dieser enormen Spannung und ich wusste nicht, was ich tun konnte, um diesem Schmerz, diesem Druck zu entkommen.

Ich erhob mich, blickte ein letztes Mal auf ihren Namen und dann nach oben in den Himmel. Ich weiß, sie taten es nicht extra. Die drei wollten mich wahrscheinlich nie so sehr quälen, wie sie es jetzt taten. Nichtsdestotrotz fühlte ich mich wie ein Verrückter.

Sie halfen mir dabei, meine Moral immer weiter von mir wegzustoßen, und ich wusste nicht, ob das Ryou war, der mir diese Worte zuflüsterte, aber dieser Hass, der sich in mir aufstaute, er war nur an jemand Bestimmtes gerichtet.

Nicht an Ryou, nein. An die Polizei und niemand andern. Sie haben mein Leben zerstört, mich Dinge sehen lassen, die ich nie mehr vergessen würde, und das werde ich ihnen heimzahlen.

Ich werde jedem Einzelnen zeigen, wie es ist, wenn man jemanden verliert, den man liebt.

Ich werde jedem Einzelnen zeigen, wie es ist, wenn man jemanden verliert, den man liebt

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BETRAYALWhere stories live. Discover now