1 | Shade

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Sie waren in der Nacht gekommen, hatten mir gerade mal Zeit gelassen, mir meine Jacke über die Schultern zu werfen, die mehr ein Stück Stoff als wirklich eine Jacke war. Das Hämmern an der Tür hatte mich aus dem Schlaf gerissen, und kaum war ich aus dem Schlafzimmerfenster geklettert, hatten sie meine Verfolgung aufgenommen. Nun rannte ich. Ich rannte, ohne zu wissen, wohin, weil es für Menschen wie mich keinen Ort gab, an den wir gehen konnten. Keinen Ort, der auch nur im Geringsten so etwas wie Sicherheit versprach. Immerhin war ich eine Mortal.

Sterblich.

Wertlos.

Eine zum Sterben Bestimmte, die um ihr Überleben kämpfte.

Geradezu lächerlich.

Aber ich rannte trotzdem.

Ich rannte, bis meine Beine beinahe unter mir zusammenbrachen und meine Lungen den Dienst aufzugeben drohten, und dann rannte ich weiter. So lange, bis ich auf den Zaun traf. Hektisch sah ich mich um.

Weg, ich musste weg.

Die Gitterstäbe vor mir waren hoch, fast unmöglich zu überwinden, und als hätte das nicht gereicht, standen sie unter Starkstrom. Man wollte sich sicher sein, dass kein Mortal es jemals auf die andere Seite schaffte.

Kurzentschlossen rannte ich am Zaun entlang, auf der Suche nach einer Lösung, nach einem kleinen Fetzen Hoffnung, aber die Schritte hinter mir kamen immer näher.

Und dann war ich beim Tor angekommen. Das Tor, für das nur die Immortals den Code hatten. Früher war ich oft hier gewesen, hatte auf die andere Seite hinübergeblickt und mir vorgestellt, wie es wäre, dort zu leben.

Nun weckte das Tor nur noch schlechte Erinnerungen in mir.

Tränen der Verzweiflung stiegen mir in die Augen und vernebelten mein Sichtfeld. Mit einer fahrigen Bewegung wischte ich sie weg, aber es folgten sofort neue.

Ich war geliefert.

Außer ...

Es gab Gerüchte, dass das Tor in Wahrheit gar nicht unter Strom stand, oder zumindest unter keinem, der stark genug gewesen wäre, um einen Menschen zu töten. Vielleicht stimmten diese Gerüchte ja. Schließlich passierten Immortals das Tor regelmäßig und dabei ließ es sich sicher nicht vermeiden, dass hin und wieder jemand versehentlich die Gitterstäbe berührte.

Obwohl ich gewissen von ihnen dieses Schicksal gewünscht hätte. Zumindest den gelangweilten, grausamen, mordlustigen von ihnen, vor denen ich mich meine ganze Kindheit lang gefürchtet hatte.

Aber ich durfte nicht darüber nachdenken. Nicht jetzt. Nicht schon wieder.

Ich musste es riskieren. Die Idee war absurd und so gefährlich, dass es fast schon an Selbstmord grenzte. Aber wenn die Alternative war, ihnen in die Hände zu fallen, stellte ich mich lieber der Gefahr eines Stromschlags oder ließ mich auf der Seite der Immortals erschießen.

Schließlich hatte ich es meiner Mutter versprochen.

Also kletterte ich. Trotz meines völlig geschwächten Zustands half mir das Adrenalin, mich an die Gitterstäbe zu klammern, und ich zog mich Stück für Stück nach oben. Dass ich keinen tödlichen Stromschlag bekommen hatte, fiel mir erst nach wenigen Sekunden auf, aber auch da hatte ich keine Zeit für Triumph.

Die Schritte hinter mir kamen näher, waren schon viel zu nah. Gelächter, ein Schuss, aber nur in die Luft, um mich einzuschüchtern. Sie wollten mich nicht töten.

Leider.

Schneller! Ich musste schneller klettern. In der Eile rutschte ich immer wieder ab und Angstschweiß sammelte sich in meinen Handflächen, der mir den Griff zusätzlich erschwerte. Die kribbelnde Elektrizität des Tors ließ meine Gedanken verschwimmen.

Aber irgendwie schaffte ich es nach oben. In dem Moment, als ein weiterer Schuss fiel, schwang ich meine Beine über das obere Ende und sprang ab, nicht geradeaus, sondern zur Seite, um in die Rosenbüsche auf der Seite der Immortals zu fallen.

Mit einem leisen Aufschrei traf ich unten auf und Dornen bohrten sich in meine Haut. Auf der anderen Seite ertönte ein Fluchen, gefolgt von einem Schuss, der mir wohl Angst einjagen sollte. Am liebsten hätte ich laut aufgelacht. Sollten sie mich doch erschießen. Ich hatte mich nie besonders vor dem Tod gefürchtet.

Einen Moment lang lag ich nur da und versuchte, mich zu sammeln, dann rappelte ich mich wieder auf und rannte weiter. Durch die Vorbezirke des Stadtteils der Immortals, zwischen all den Reihenhäusern mit ihren ordentlichen Vorgärten hindurch, die geradezu nach Reichtum und Egoismus schrien.

Eine perfekte Welt, hinter deren Fassade Abhängigkeit und Arroganz lauerten. In deren perfekten Häusern unperfekte Menschen lebten, die eigentlich schon vergessen hatten, wie man lebte.

Die Immortals bemitleideten uns, aber ihre Existenzen waren genauso verloren wie unsere.

Menschen waren nicht dazu geschaffen, für immer zu leben.

Erst als ich weit genug entfernt war, dass das schwache Licht des Zaunes von der Dunkelheit verschluckt wurde, und ich mich in den polierten Straßen des Stadtteils der Immortals verirrt hatte, merkte ich, wie müde ich eigentlich war. Ich war lange gerannt und nun ließ das Adrenalin nach, ließ mich die Kratzer der Dornen an meinem Körper und die Kälte an meinen nackten Füßen spüren.

Ich hatte nicht weiter gedacht als bis hier, nicht einmal gedacht, dass ich es überhaupt so weit schaffen würde. Und nun wusste ich nicht, wohin ich gehen sollte.

Hier gab es keinen Ort, an den ich gehörte, niemanden, der von meiner Existenz wusste oder davon wissen wollte.

Ich hatte jahrelang allein gelebt, aber ich hatte mich noch nie so einsam gefühlt wie jetzt.

Erschöpft schleppte ich mich eine weitere Straße entlang und ließ mich dann zwischen zwei Einfamilienhäusern einfach auf den Boden fallen.

Sie würden mich finden. Ich würde sterben. Aber welche Wahl hatte ich schon? Zurück in den Stadtteil der Mortals konnte ich nicht. Also blieb ich sitzen, mit dem Rücken zur Wand, und sah mich um. In den Häusern brannte kein Licht mehr und über mir funkelten die Sterne, ließen mich an bessere Zeiten denken, die meist nur Minuten gedauert hatten. Ein schöner Anblick beim Sterben.

Ich hatte keine Angst vor dem Tod. Es war nie die Frage gewesen, ob ich sterben würde, sondern nur, wann. Schließlich war ich eine Mortal. Zum Sterben geboren. Und nun lief meine Zeit ab, rann mir aus den Fingern wie Sand aus einer kaputten Sanduhr.

Eigentlich hatte ich wach bleiben wollen, um meine letzten Momente bei Bewusstsein zu verbringen, aber die Müdigkeit gewann. Trotz der drohenden Gefahr fielen meine Augen zu und ich sank in einen bleischweren Schlaf.

Immortals - Solange wir leben [LESEPROBE]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt