ORT: Karpaten, irgendwo an der Grenze zwischen Rumänien und der Ukraine

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„Mein Auto fährt auch ohne Wald" gluckste ich, Arbeiter 4314 genannt Alvin.

Mürrisch sah mich mein Kollege an. Da er nicht weiter reagierte, redete ich einfach weiter.

„Kaum zu glauben, dass die früher solche Sprüche auf ihre Autos geklebt haben. Wobei, sie hatten recht. Die damaligen Autos fuhren tatsächlich ohne Wald. Erst fuhren sie mit Verbrennungsmotoren, später mit Strom, den sie allerdings aus Kohle- und Atomkraft gewonnen hatten."

„Immerhin fuhren Sie!" murrte mein Kompagnon, auf dessen Schutzanzug die 9308 stand zurück.

„Das ist richtig. Aber irgendwann hatten sie so viele Fahrzeuge, dass sie nicht mehr wussten wohin, da sich alles auf den Straßen staute. Außerdem begann nach und nach der Smog. Auf Grund der zunehmenden Lungenerkrankungen Ende des 21. Jahrhunderts konnten einige überhaupt nicht mehr aus ihren Wohnungen raus."

Schweigend gingen wir beide über die verdorrte Landschaft der Karpaten. Einst ein stolzes Hochgebirge Europas mit beeindruckenden, fruchtbaren Flusstälern. Jetzt sah man überall nur den Tod. Ohne unsere Schutzanzüge mit Helm, Filtern und künstlicher Sauerstoffversorgung würden wir keine 5 Minuten überleben können. Während wir schwiegen, konnte man dennoch unser schweres Atmen in der Funkverbindung hören. Über uns am Himmel, wo einst die Sonne schien, der Regen nicht tödlich war und vereinzelt Vögel flogen, schwirrten jetzt nur noch Drohnen. Und sie alle hatten nur ein Ziel. Sie wollten Überbleibsel von Bäumen finden. Jede noch so kleine lebendige Zelle brauchten wir. Und zwar dringend. Mission Control benötigte sie.

Letzten Monat waren wir in einem größeren Außentrupp gewesen. In der Nähe der ehemals nordeuropäischen Nadelwaldregion, welches weite Teile von Fennoskandiens umschließt. Dort, wo einst Kiefern, Fichten und Birken wuchsen. Ich erinnerte mich. Als Kind hatte ich mit meinem Opa oft in der holografischen Projektion Spaziergänge gemacht. Mein Opa, der die Wälder noch in echt erlebt hatte meinte, die Luft und die Gerüche wären viel intensiver gewesen, als es mit unseren knappen Luftvorräten und künstlich erzeugten Waldaromen hätte je erzeugt werden können. Ich konnte mir das gar nicht vorstellen, denn ich kenne von klein auf nur den künstlichen Sauerstoff. Aber ich wünschte, ich hätte meinem Opa, bevor er starb, noch einmal einen echten gesunden Wald zeigen können.

Von der stolzen nordeuropäischen Nadelwaldregion war nur noch die hügelige Landschaft übrig. Wir hatten nichts gefunden. Jetzt hier in den Karpaten war unsere letzte Hoffnung. Wir hatten bereits überall in Europa gesucht. Die amerikanischen und russischen Teams hatten bereits aufgegeben. Sie hatten sich in ihrer Basis verschanzt und warteten auf Mission Control, dass diese sie endlich aus dem All abholten und sich in ihrer Arche auf den Weg machten, in einem anderen Sonnensystem einen erdähnlichen Planeten zu finden. Welch' aussichtslose Situation. Die Sauerstoffressourcen waren viel zu knapp. Daher die Idee, künstliche Wälder anzulegen, die sie über viele Generationen hinweg in der Arche mit Sauerstoff versorgten. Es war buchstäblich ein dünner Grashalm, an dem sie sich klammerten.

Mein Kollege 9308 meldete sich über Funk: „Eine Drohne hat etwas in ca. 100 Metern Entfernung von hier entdeckt. Warte, ich schicke es Dir in Dein Helmdisplay rüber!"

Tatsächlich, eine der Drohnen hatte eine biologische Signatur aufgefangen, die dem lebenden Organismus eines Baumes recht nahe kam. Uns genügten nur wenige Zellen um einen Baum mit Hilfe der anderen Proben auf der Arche zu klonen. Mein Herz raste wie wild. Hoffnung keimte in mir auf. Ich ließ die Navigationssoftware die schnellste Route berechnen, da meldete sich mein Kollege 9308 erneut: „Wir müssen morgen gehen. Lass uns zur Basis zurückkehren."

„Um Himmels willen wieso? Wir haben doch darauf so lange gewartet!"

„Sauerstoff reicht nicht."

Den Wald vor lauter Bäumen nichtWhere stories live. Discover now