Kapitel 95.5

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Augenblicklich schossen alle Augenpaare zu ihm.

„Wie bitte?", fragte Jo mit hochgezogenen Augenbrauen. Sie war sichtlich überrascht von Kierans Beitrag zum Gespräch. Kieran ignorierte sie und fuhr fort. Mir jedoch kam erneut in den Sinn, dass ich weniger über Kieran wusste, als ich es ohnehin schon angenommen hatte. Natürlich hatte er bereits erzählt, dass er einst seine Gefühle abgeschaltet hatte, doch dass er auch mit solch einer Gewissheit über die Elitesoldaten sprach, erstaunte mich.

„Sie waren einmal ganz gewöhnliche Mutanten, die als Soldaten eingezogen wurden und an der Front mitkämpfen mussten. Aufgrund des vielen Leids und der Grausamkeiten hielten sie es nicht mehr aus und sie gehörten zu den ersten, die herausfanden, dass sie ihre Gefühle abschalten konnten. In ihrer Verzweiflung taten sie es.", erzählte Kieran. Sein Tonfall war erschreckend nüchtern und teilnahmslos. „Seitdem waren sie die gefährlichsten und gefürchtetsten der Soldaten. Nicht nur die menschlichen gegnerischen Soldaten fürchteten sie, sondern auch ihre eigenen Leute." Es klang beinahe, als würde er einfach nur irgendeine Geschichte zitieren, die er in einem Buch gelesen hatte. Nicht, als würde er über wahre, schreckliche Ereignisse sprechen, die er vielleicht sogar selbst miterlebt hatte. „Die Regierung erfuhr davon und befahl, dass man dieses Phänomen mit den ausgeschalteten Gefühlen genauer untersuchen solle. Die Mutanten, auf die das zutraf, wurden in Forschungsinstitute gebracht und beobachtet. Als die Forscher erkannten, dass sie tatsächlich über keinerlei Gefühle mehr verfügten, aber dennoch das mickrige Überbleibsel eines innigen Wunsches übrig geblieben war, den die Mutanten einst hegten, beschlossen sie, sich das zu Nutze zu machen. Sie gaben diesen Mutanten ein Zuhause, ein Leben und eine Zukunft. Um dieses Privileg beibehalten zu können, unterwarfen die Mutanten sich einem harten Training, das sie aufgrund ihrer fehlenden Emotionen ohne Probleme absolvierten." Kieran machte eine kurze Pause. Sein Blick schweifte durch die Runde. Jeder, der seinen Blick erwiderte, senkte instinktiv die Augen. „Sie sind die Elitesoldaten der Regierung. Wie viel ihnen ihre Privilegien wirklich noch wert sind, wenn sie doch keine Gefühle haben, um sich an ihnen zu erfreuen, kann ich nicht sagen. Vielleicht bindet sie auch nur die Erinnerung an einen ehemals wichtigen Wunsch oder ein ehemals verspürtes Gefühl von Verzweiflung an die Privilegien, die sie von der Regierung erhalten haben, weshalb sie dieser treu ergeben sind." Kieran verstummte. Er hatte erzählt, was er zu erzählen hatte und jetzt schwieg er wieder.

Wirklich jeder starrte ihn fassungslos an. Harlan und Michelle vielleicht noch ein wenig fassungsloser als die anderen, da sie nicht wussten, dass Kieran einst keine Gefühle mehr gehabt hatte. Doch mich beschlich so langsam das leise Gefühl, dass er womöglich niemals wieder ganz der Alte geworden war. Manchmal war es wirklich schockierend, wie wenig ihn das alles mitnahm, wie teilnahmslos, ja fast schon gleichgültig, er war. Vor allem, wenn er von solch grauenvollen Ereignissen wie dem Krieg sprach. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, was er dort alles gesehen oder sogar getan hatte.

„Woher weißt du das alles?", fragte Michelle. Sie klang bestürzt. Kierans gleichgültiger Blick legte sich auf sie. Augenblicklich durchfuhr sie ein Schaudern. Feine Schweißperlen legten sich auf ihre Stirn. Harlan, der sofort eine Gefahr witterte, packte seine Ehefrau bestimmt, aber sanft und zog sie hinter sich. Seine erstaunlich dunklen Augen erfassten Kieran. In diesem Moment machte er einen wirklich bedrohlichen Eindruck. Kieran jedoch wirkte nicht das kleinste Bisschen eingeschüchtert.

Mich hätte es tatsächlich auch gewundert, wenn irgendetwas oder irgendjemand dazu in der Lage wäre. Der Tag, an dem Kieran die Furcht kennenlernen würde, würde schlicht und einfach eine Vorstellung bleiben.

»Wer bist du?«, knurrte Harlan. Seine dunklen Augen sprühten vor Ablehnung und Misstrauen. Er war zu allem bereit, um seine Familie zu beschützen. Hier und jetzt würde er Kieran ohne Rücksicht auf alle Anwesenden in Fetzen reißen. - Wenn Kieran ihn nicht daran hindern würde. Wieder einmal musste ich an die Nacht des Brandes denken, der Aldric das Leben und uns unser sicheres Zuhause gekostet hatte. Wie Kieran wie aus dem Nichts heran geschossen kam, flink und schnell wie ein Raubtier, das es gewohnt war, seine Beute schnell zum Stillstand zu zwingen. Kaltblütig und grausam. Ohne einen Funken von Mitleid. Ohne Gewissen.

Noch immer konnte ich nicht genau sagen, wieso Kieran so geworden war. Seine Vergangenheit war nach wie vor in tiefe Schatten gehüllt. Zudem erklärte sich mir immer noch nicht, wie genau er es geschafft hatte, seine Gefühle wiederzuerlangen und wie er zu den Severos gekommen war. Oder hatte er sich gar dazu entschieden? Aber wieso sollte jemand so etwas tun?

»Mein Name ist Kieran.«, stellte Kieran sich Harlan mit einer beängstigenden Ruhe vor. Dennoch entging mir sein Blick nicht, der ganz klar aussagte, dass das Harlan eigentlich überhaupt nichts anging.

»Dann hör mir gut zu, Kieran.«, sagte Harlan. Seine Stimme war bedrohlich leise. »Du hältst dich von meiner Familie fern.« Kurz zuckte sein Blick zu seinen beiden Kindern, die zusammengerollt und seelenruhig neben Kieran schliefen. Ihr Atem ging ruhig und ihre Gesichter waren entspannt. Sie spürten die Gefahr nicht.

Auf Harlans Drohung hin zog der Farbenwechsler bloß eine Augenbraue in die Höhe. Ein gehässiges Lächeln lag auf seinen Lippen. »Von deiner Familie will ich nichts. Also keine Angst.«

Natürlich konnte ich verstehen, dass Harlan bemerkt hatte, dass Kieran anders war, als die anderen Mutanten. Er strahlte etwas aus, das sich nicht so leicht in Worte fassen ließ. Und es war alles andere als beruhigend.

Dennoch hatte er nichts getan, das Harlans Verhalten rechtfertigte. Er hatte bloß auf dem Sofa gesessen. Neben mir. Und Harlans Beschützerinstinkt war erst erwacht, als Kierans Blick seine Frau erfasst hatte. Was auch nur geschah, weil diese eine Frage an ihn gerichtet hatte. Wieso ging Harlan davon aus, dass Kieran ihr etwas antun würde?

Harlan stieß ein warnendes Knurren aus, was Kieran genauso unbeeindruckt ließ, wie dessen Drohung. Vielleicht war es da, was den Vater beunruhigte: Kieran brutale Gleichgültigkeit. Oder aber er erinnerte ihn an die Elitejäger.

Auch mir entging diese Ähnlichkeit nicht mehr, nachdem ich ihnen begegnet war. Aber ich zweifelte auch nicht daran, dass Kieran einer von uns war. Er mochte seltsam und manchmal wirklich beängstigend sein, doch uns würde er nichts tun. Er würde töten, um unsere – seine –Gruppe zu schützen. Davon war ich überzeugt.

»Harlan.«, sagte ich eindringlich und zog somit seine Aufmerksamkeit auf mich. Dennoch beobachtete er noch immer Kieran. »Du hast von ihm nichts zu befürchten.« Wir konnten es nicht gebrauchen, dass wir uns untereinander misstrauten und uns schließlich gegenseitig vernichteten. Wir hatten bereits genügend Feinde.

»Sag mir nicht, dass du nicht merkst, dass mit ihm etwas nicht stimmt!«, rief Harlan aufgebracht, da ich mich nicht auf seine Seite gestellt hatte. »Spürst du das nicht?« Dass er nun Kierans Worte von vorhin wiederholte, schnürte mir die Kehle zu. Kieran und ich, wir unterschieden uns beide von den anderen Mutanten. Inwiefern war noch immer schwer zu sagen, dennoch war das unzweifelhaft. Und im Gegensatz zu Harlan kannte ich Kieran. Zumindest ein wenig. Ich wagte nicht zu behaupten, ihn zu kennen. Aber ich war lange genug mit ihm unterwegs gewesen, um ihn zumindest ein wenig einschätzen zu können.

Er hatte für uns sein sicheres Leben bei den Severos hinter sich gelassen. Und das bedeutete etwas.

Fassungslos schüttelte Harlan seinen Kopf, als ich nichts auf seine Aussage erwiderte. Dann legte Michelle ihm ihre Hand auf den Arm. »Beruhige dich. Wir sind hier zu Gast. Vergiss das nicht.«, versuchte sie ihn zu besänftigen. »Und etwas Ruhe würde uns allen guttun. Zumindest bis morgen.« Flehend sah sie ihn an. Sie wirkte unglaublich müde und das bemerkte auch Harlan. Seine Mimik entspannte sich.

»Ihr könnt gerne das Schlafzimmer haben.«, bot Audra an. Auch ihr war anzusehen, dass ihr die angespannte Lage nicht gefiel. Knapp nickte Harlan dankend, ehe er die schlafende Sophia hoch hob, während Michelle sich Felix nahm. Beide folgten Audra aus dem Raum.

Für einen kurzen Augenblick war es still. Dann meldete Jo sich zu Wort. »Was auch immer das gerade war, ich hoffe, es hat sich morgen erledigt.« Mikéle nickte zustimmend.

»Ich habe ja nichts dagegen, dass sie erst einmal hierbleiben, aber wenn dieser Harlan sich nicht zusammenreißen kann, kann zumindest er nicht bleiben.«, meinte er.

Brenda, die sich zuvor noch im Hintergrund aufgehalten hatte, schluckte, den Blick auf den Boden gerichtet und knetete ihre Hände. »Wir können ihn doch nicht einfach rauswerfen und von seiner Familie trennen.«, sagte sie vorsichtig. »Aber wir können auch nicht die ganze Familie auf die Straße setzen.«

Freya Winter - MutantWo Geschichten leben. Entdecke jetzt