Kapitel 105

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Das Interview schlug solche Wellen, dass ich das Gefühl hatte, gnadenlos fortgespült zu werden. Zumal ich noch immer die Vermisstenanzeige nicht aus meinen Gedanken verbannen konnte. Mrs Campbell hatte mich damit wirklich kalt erwischt.

Und obwohl ich ihr extra nicht meinen Nachnamen verraten hatte, hatte sie ihn dennoch herausgefunden. Aber ich war ihr dankbar, dass sie ihn geschwärzt hatte. Trotzdem fragte ich mich nun, ob meine Eltern das Interview auch gesehen hatten. Denn die Vermisstenanzeige sowie das dazugehörige Foto müssten sie erkannt haben. Und somit würden sie wissen, dass dieses schuppige Etwas im Fernsehen ich war. Was sie wohl davon hielten? Wie Lucius auf mich reagiert hatte, wusste ich und gerade das machte mir Angst.

Immerhin würde ich ihnen nicht gegenüberstehen müssen, um ihre Reaktion zu sehen. Das wollte ich auch nicht. Wäre Liam noch hier, würde er mir garantiert sagen, dass bestimmt alles gut werden würde, wenn ich dem Ganze nur Zeit geben würde. Schließlich war es bei Lucius genauso gewesen. Aber Liam war nicht mehr hier. Und das würde er auch nie wieder. Wie viele Mutanten mussten noch sterben? Er würde heute noch leben, würden die Regierung und die Menschen endlich einsehen, dass wir auch Rechte hatten.

Als Audra mein menschliches Ich gesehen hatte, war sie hemmungslos in Tränen ausgebrochen und hatte möglichst leise geweint, um die anderen beim Sehen des Interviews nicht zu stören. Erst jetzt schien sie wirklich zu realisieren, was mir passiert war. Aber anstatt mit mir darüber zu sprechen, hatte sie sich zurückgezogen und machte das Ganze jetzt allein mit sich selbst aus.

Samuel und die anderen Mutanten dagegen waren nach dem Interview nicht so emotional erschüttert wie Audra oder ich und feierten unseren Erfolg, da nun bewiesen war, dass Mrs Campbell zu trauen war. Aber nicht nur hier, in unserem kleinen sicheren Hafen, war das Interview durch die Decke gegangen. Auch die Menschen schienen über nichts anderes mehr zu sprechen.

Ich hatte geahnt, dass es selbst für die Menschen unmöglich sein würde, das Interview zu ignorieren. Auch ein kleiner Stein verursachte Wellen. Was ich allerdings nicht erwartet hatte, war, dass die Welle, die wir erzeugt hatten, so groß sein würde, dass sie das ganze Land unter sich einnehmen würde.

Einen Tag nach der Ausstrahlung fand ich mein Gesicht auf zahlreichen Titelblättern wieder. Während die einen mich als grausame Lügnerin darstellten, die sogar ein unschuldiges Menschenkind, das wahrscheinlich längst tot war, mit hineinzog, bezeichneten die anderen mein Schicksal als Tragödie und wieder andere sprachen von einer Verschwörung von seiten der Regierung oder Ambrosia.

Im Internet hatten Leute mein Kinderfoto mithilfe eines Programms mit meinem jetzigen Erscheinen abgeglichen. Laut ihnen stimmten die Gesichtszüge im Wesentlichen überein, auch wenn meine Schuppen den Abgleich erschwert zu haben schien.

Wie Haie hatten sich die Journalisten darauf gestürzt und versuchten, die alten Vermisstenfälle wieder aufzurollen, was nach all den Jahren natürlich schwierig war, zudem man über die heutigen Mutanten wenig herausfinden konnte, zumal man an keine Bilder von ihnen herankam. Weshalb auch? Mutanten sollten gehorchen und arbeiten, keine Fotos von sich im Netz verbreiten.

Da sie schnell herausfanden, dass es doch ziemlich schwierig war, die anderen Vermisstenfälle zu lösen, stürzten sie sich auf meinen. Versuchten, meine Identität herauszufinden, ebenso wie die meiner Familie. Glücklicherweise hatte Mrs Campbell meinen Nachnamen geschwärzt. Dennoch war ich mir sicher, dass es bloß eine Frage der Zeit war, bis meine Familie gefunden und belagert werden würde. Also blieben ihnen fürs erste bloß meine Fotos und meine Worte.

Unzählige Male wurden meine Fotos von unzähligen verschiedenen Leuten abgeglichen. »Dieses Mädchen ist ganz offensichtlich das gleiche. Seht euch nur ihre Gesichtszüge an!«, hieß es in einer Diskussionsrunde im Fernsehen. »Ich weiß nicht, wie das möglich sein kann, aber diese Mutantin war ohne Zweifel mal ein Mensch. Was bedeutet das für uns? Diese Mutanten – nein, diese Kinder – haben Grausames durchgemacht und noch immer müssen sie diese Tortur über sich ergehen lassen. Und was ist nur mit den Kindern, die an unserer Stelle im Krieg kämpfen und sterben? Wir nutzen sie als Schutzschild und uns war es so lange egal, wie sich das auf ihre Psyche oder gar ihr Leben auswirkt. Wir haben viel zu lange unsere Augen verschlossen. Diese Kinder müssen auf der Stelle von der Front geholt und resozialisiert werden!«

Freya Winter - MutantWhere stories live. Discover now