Kapitel 94.4

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Anders als Lucius brauchte Harlan keine Pause zu machen. Er fuhr bereits seit mehreren Stunden durch, obwohl Michelle angeboten hatte, mit ihm zu tauschen. Außerdem fuhr er deutlich schneller als Lucius es sich zugetraut hatte. Wir würden also deutlich schneller in Morvah ankommen als erwartet. Und hoffentlich würden wir dort auf die anderen treffen. Ich wusste wirklich nicht, was wir machen sollten, wenn dem nicht so war. Auch fiel mir kein anderer Ort ein, an dem sie sonst sein könnten. Also lagen all unsere Hoffnungen auf dem alten Ferienhaus von Aldrics verstorbener Großtante.

„Wie lange werden die Elitejäger eigentlich in deinem Eis eingeschlossen sein?", fragte auf einmal Michelle. Ihre Stimme klang besorgt, während sie Sophia an sich drückte. Leider konnte ich ihr das auch nicht genau sagen. Es war Sommer. Das Eis würde schmelzen. Zumindest irgendwann. Allerdings hatte ich auch schon einmal Eis geschaffen, das bis heute noch genauso war, wie damals. Allerdings wusste ich noch immer nicht, wie ich so etwas zustande gebracht hatte. Ob ich es jemals erfahren würde, war ungewiss. Aber Clausen hatte meine Mutation verstärkt. Zumindest äußerlich. Vielleicht hatte dies auch Auswirkungen auf mein Eis?

„Ich weiß es nicht.", gab ich zu, woraufhin Michelle gequält ihr Gesicht verzog und Sophia beruhigend über das Haar strich. Diese kuschelte sich an ihre Mutter. Felix, der zwischen uns in seinem Kindersitz saß, schlief.

„Sobald sie freikommen, werden sie wieder die Verfolgung aufnehmen.", sagte Michelle leise. Ihr war anzusehen, dass sie um ihre Familie fürchtete. Und dass sie um ihre Zukunft bangte. Sich für immer verstecken zu müssen, war definitiv kein wünschenswertes Leben.

„Bis heute waren wir uns nicht sicher, ob die Elitejäger es auf uns abgesehen haben.", sagte Harlan ohne den Blick von der Straße zunehmen. Er setzte den rechten Blinker und überholte einen Lastwagen. „Das hat sich allerdings jetzt bestätigt. Und es macht alles komplizierter." Kurz wirkte es so, als wollte er noch etwas hinzufügen, doch dann beließ er es dabei.

„Sie werden nicht aufhören, uns zu verfolgen.", sprach Michelle, deren Gesicht einen verzweifelten Ausdruck angenommen hatte, während sie aus dem Fenster blickte. „Und euch haben wir nun auch mit hineingezogen. Das tut mir wirklich leid. Jetzt steht ihr auch auf ihrer Liste."

Lucius seufzte. „Du musst dich nicht entschuldigen. Ich schätze, dass Freya schon längst eines ihrer Ziele war.", meinte er. Aufmerksam blickte ich auf.

„Wie bitte?" Wenn ich bereits eines ihrer Ziele war, weshalb hatte ich erst heute von der Existenz der Elitejäger erfahren? Hätten sie mich nicht bereits finden müssen? 

 Auch Harlan und Michelle wirkten irritiert. „Wieso sollten sie Freya jagen?", wollte Michelle wissen. Gründe, mich zu jagen, gab es wohl genug. Und wenn ich mich richtig erinnerte, hatte Ambrosia damals einigen Jägern von mir erzählt. Damit sie mich töteten, wenn sie mir begegneten. Allerdings war bisher nur Lucius mit seiner Gruppe auf mich gestoßen.

„Freyas Nummer ist dreiundneunzig.", erklärte mein Bruder knapp. Auch erschien nicht zu wissen, welchen Grund er sonst nennen sollte. Und dies war wohl der Hauptgrund. „Vermutlich haben alle Jäger, ob sie nun der Regierung dienen oder nur sich selbst, die Erlaubnis erhalten, Freya zu töten." Dass er selbst diese Erlaubnis hatte, verschwieg er.

Augenblicklich traf mich Harlans Blick im Rückspiegel. „Du bist Nummer dreiundneunzig?", fragte er ungläubig. Auch seine Frau sah mich an. Allerdings schien sie nicht ganz zu wissen, wo sie meine Nummer unterzuordnen hatte. Jedoch sah man ihr an, dass sie meine Nummer schon einmal gehört hatte.

Mit einem knappen Nicken bestätigte ich. Nachdenklich sah Harlan mich über den Rückspiegel an. „Ob du nun ein Segen oder ein Fluch bist, kann ich noch nicht sagen.", meinte er.

„Segen oder Fluch?", harkte Michelle verwundert nach. „Wovon sprichst du?"

„Wenn sie wirklich Nummer dreiundneunzig ist, ist sie verantwortlich dafür, dass die Experimente an Kindern ein Ende fanden.", erklärte Harlan. Seine Stimme verriet nicht, ob das nun positiv oder negativ war. „Darum konnten wir endlich von diesem schrecklichen Ort fliehen. Allerdings ist es danach nicht besser geworden, als die Menschen von unserer Existenz erfahren haben." Erneut warf er mir einen Blick über den Rückspiegel zu. „Eigentlich hätte mir längst auffallen müssen, dass du dreiundneunzig bist. Immerhin hast du die Elitejäger vorhin in Eis eingeschlossen.", sagte er.

„Einen Fluch würde ich sie jetzt nicht nennen.", sagte Michelle empört. „Sie konnte ja nicht wissen, was nach der Befreiung passieren würde! Außerdem geht es nicht allen Mutanten schlecht." Vorwurfsvoll sah sie ihren Mann an. „Ohne sie hätten wir beide uns niemals kennengelernt."

„Das ist wohl wahr. Aber ich rede nicht bloß von mir. Wie viele Mutanten können schon von sich sagen, dass es ihnen gut geht? Dass es ihnen gefällt, am Leben zu sein?", erwiderte Harlan.

„Aber es ist nicht Freyas Schuld!", rief Michelle aufgebracht. Ich hielt es für besser, mich aus dieser Diskussion herauszuhalten. Man konnte es wie Michelle oder wie Harlan sehen. Beide hatten auf gewissen Weise recht. Oder lagen zumindest nicht falsch. Einerseits hatte ich damals nicht wissen können, was nach unserer „Befreiung" auf uns zukommen würde. Und schuld am Verhalten der Menschen war ich auch nicht. Andererseits hatte ich die darauf folgenden Ereignisse zum Laufen gebracht. Auch, wenn ich nur einen kleinen Hebel in Bewegung gesetzt hatte. Der Rest hatte sich verselbstständigt. Was, wenn ich das nicht getan hätte? Wären wir alle in den Ambrosia-Laboren gestorben? Hätten wir sie jemals wieder verlassen? Oder wären wir nun die seelenlose Werkzeuge der Menschen?

„Es ist nicht alles verloren.", sagte Michelle nun sanfter. „Auch, wenn die Welt jetzt grau erscheint. Es gibt noch Hoffnung. Wir können etwas verändern."

Abschätzend schnaubte Harlan auf. „Ach ja? Und wie?", fragte er mit einer Stimme, die so voller Bitterkeit war, dass sich etwas in mir zusammenzog. „Wir haben gerade genug zu tun, die Kinder und uns zu schützen. Wie sollen wir etwas verändern? Außerdem: Glaubst du wirklich, uns würde jemand zuhören? Wir sagen einmal unsere Meinung und die Menschen denken für einen Moment nach, stimmen uns zu und entschuldigen sich?"

Michelle seufzte schwer. „Ach, Harlan.", murmelte sie. „Nicht alle Menschen sind schlecht. Vergiss das nicht."

„Du bist aber auch die Ausnahme.", erwiderte er.

„Aber ich bin nicht die einzige Ausnahme.", sagte Michelle zuversichtlich. „Und allein, dass es diese Ausnahmen gibt, gibt mir die Hoffnung, dass es besser werden kann." Daraufhin sagte Harlan nichts mehr. Allerdings sah er auch nicht so aus, als würde er seiner Frau zustimmen.

„Fahr hier bitte einmal von der Autobahn.", sagte Lucius plötzlich.

Skeptisch runzelte Harlan die Stirn. „Wieso?", wollte er wissen. Dennoch setzte er den Blinker und fuhr auf die Ausfahrt zu. „Was willst du in Taunton?"

„Wir haben ein paar Flugblätter, die wir noch verteilen müssen.", antwortete mein Bruder. „Das tun wir besser hier, als in Morvah. Außerdem können wir auch ein paar als Briefe an willkürliche Adressen schicken." Zustimmend nickte ich. Einer von uns müsste dann Briefumschläge und Briefmarken kaufen, aber das würde kein Problem sein. Michelle könnte dies übernehmen, da sie die Unauffälligste von uns war. Natürlich könnte dies auch Lucius übernehmen, doch da man ihn eventuell aus den Nachrichten erkennen könnte, zog ich es vor, Michelle für diese Aufgabe zu nehmen.

„Was für Flugblätter?", fragte Harlan. Kurz erklärte ich ihm, was es mit den Flugblättern auf sich hatte. Noch immer war Harlans Miene nicht zu lesen.

„Oh, das ist eine wundervolle Idee!", rief Michelle begeistert aus, verstummte aber sofort wieder, als sie bemerkte, dass nun auch Sophia schlief. Nachdenklich starrte Harlan geradeaus und konzentrierte sich auf das Fahren. Dennoch überlegte er wohl nun, was er von unseren Flugblättern halten sollte. Ob sie überhaupt etwas bringen würden. Die Zweifel waren ihm anzusehen.



Freya Winter - MutantWhere stories live. Discover now