Kapitel 10

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Die Nacht ohne chi'darro zu überstehen war die Hölle, schlimmer als alles was Gwen je erlebt hatte.

Gwen merkte, dass sie zitterte, obwohl es in ihrem Zimmer gar nicht kalt war. Ihre Gedanken kehrten immer wieder zu dem Teller Kalbsfilet zurück der ihr ein paar Stunden nachdem sie ihren Vater im Esszimmer allein gelassen hatte gebracht worden war. Sie hatte den Teller gleich in ihr Zimmer gebracht, den Inhalt in ein altes Schmuckkästchen in ihrem Schrank gestopft und den Teller auf den Steinstufen vor ihrem Zimmer abgestellt.

Während der nun folgenden Stunde schien es als ob sie an nichts anderes außer an das kalte Kalbfleisch denken konnte, das in dem Schmuckkästchen in ihrem Schrank verstaut war. Egal wie sehr sie versuchte sich abzulenken, sie erwischte sich immer dabei wie ihre Gedanken zu dem mit Kräuter bedeckten Essen wanderten, das weniger als vier Schritte von ihrem Bett entfernt auf sie wartete.

Schließlich hielt sie es nicht mehr länger aus, ging zu ihrem Schrank, holte das Schmuckkästchen heraus... und schleuderte es aus dem Fenster.

Obwohl der Fall des Kästchens von einigen Büschen gebremst wurde, schlug das hölzerne Kästchen immer noch hart genug auf, dass es in Stücke zersprang. Gwen kniff die Augen zusammen und meinte ein Stück Kalbfleisch ausmachen zu können.

Nachdem sie es losgeworden war, starrte sie noch fast zehn Minuten hinunter auf das kleine, aufgebrochene Kästchen bevor ihr klar wurde, was sie da tat.

Und so ging Gwen wieder zu ihrem Bett, atmete tief ein... und fing an über die winzigen blau-grünen Flecken der Kräutersoße nachzudenken, die noch auf dem Teller klebten der vor ihrer Tür stand.

Es verlangte ihr all ihre Willenskraft ab sich selbst davon abzuhalten einfach die Tür aufzumachen und nachzusehen, ob der Teller noch da war. Ab und zu versuchte sie sich einzureden, dass sie bloß kurz hinausschauen würde um sicher zu gehen, dass er vom Personal weggeräumt worden war.

Tief in ihrem inneren kannte sie jedoch den wahren Grund, warum sie in Versuchung war die Tür aufzumachen… diese kleinen Reste der Kräutersoße, die auf sie warteten.

Und so zwang sie sich dazu auf ihrem Bett liegen zu bleiben, die Decke anzustarren, mit all ihrer Macht an etwas -irgendetwas- anderes zu denken, bloß nicht daran, wie sehr sie die Tür öffnen, sich den Teller schnappen und ihn ablecken wollte.

Als sie schließlich einen der Diener die Treppe heraufkommen und leise das Tablett wegräumen hörte, brach sie in Tränen aus… aber nur aus Erleichterung.

Obwohl sie erschöpft war, schien es als könnte sie nicht mehr als fünf Minuten am Stück schlafen, denn jedes Mal wenn sie wegdöste hatte sie solch intensive, ekelerregende Alpträume, dass sie mit rasendem Herzen hochschreckte. Groteske, missgebildete Monster erschienen in diesen Träumen aus den dunkelsten Winkeln ihres Geistes und jagten sie vor sich her, während sie lachend ihren Namen riefen.

Manche verwandelten sich in wolfsähnliche Kreaturen die sie irgendwie an Anifall erinnerten, knurrende mit borstigem Fell bedeckte Missgeburten. Andere brachen plötzlich in sich zusammen und ihre Haut begann zu rauchen und schreckliche Blasen zu werfen, während sie vor Schmerz brüllten.

Ab und zu verwandelten sie sich in Leute, die Gwen aus Versehen während ihrer Kindheit verletzt hatte. Und manchmal wurden sie zu winselnden Welpen, die sie mit verzweifelten und bittenden Augen ansahen, während sie brannten und Rauch von ihnen aufstieg.

Das war Gwens erste Nacht ganz ohne chi’darro, und es war die Hölle gewesen.

Der folgende Morgen war noch schlimmer.

Gwen hatte dunkle Ringe unter den Augen als sie aus dem Bett stieg. Sie fühlte sich so schwach und schwindelig, dass sie anfing sich zu wundern ob sie sich am Vortag eine Erkältung eingefangen hatte. Ihr Hals war leicht geschwollen und sie bemerkte, dass sie einen seltsamen Ausschlag entwickelt hatte, oben an ihren Armen, in der Nähe der Schultern.

Tödliche Berührung (2012 WATTY-AWARDS-GEWINNER, Übersetzung)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt